Zum Liederabend am 24. April  1971 in München


     Münchner Merkur, 27. April 1971     

   

Vom Wachtelschlag zum Flohlied

Dietrich Fischer-Dieskaus Beethovenabend im Herkulessaal

    

Dietrich Fischer-Dieskau hat eine enge Beziehung zu Beethovens Liedern. Er setzt sich unermüdlich und überzeugend auf der Schallplatte und im Konzertsaal für sie ein, man muß wohl auch sagen: erfolgreich.

Es kann für einen Gestalter seiner künstlerischen Potenz, der noch die schwierigsten psychologischen Verästelungen zu veranschaulichen imstande ist, nicht leicht sein, das "schlichte Lied" Beethovens (Bücken) zu interpretieren mit seinem "letzten Rest der alten Oden-Faktur" (Riemann), die gelegentliche Nähe zu Empfindsamkeit und Sturm und Drang (nicht nur in den Texten), auch die "edle Einfalt des Gesanges" der Gellert-Lieder (fast) ganz ohne Pathos und auch Treuherzigkeit zu vergegenwärtigen.

Fischer-Dieskau begann etwas unsicher, mit dem tonmalerischen "Wachtelschlag", dem er die erste Fassung von Tiedges "An die Hoffnung" folgen ließ. Das Hauptgewicht des ganzen Programms lag in diesem ersten Teil; neben dem geistlichen Gellert-Zyklus stand "An die ferne Geliebte", jener erste "Liederkreis" romantischer Prägung; gleich genial unter diesem Aspekt wie innerhalb von Beethovens Vokalschaffen überhaupt.

Dennoch schien mir die sängerische Gestaltung des zweiten Teils abgerundeter, die überbetonte Dynamik, meist als Unterstreichen des emotionellen Textgehaltes, schien gezügelter; die Tendenz, in der Höhe (besonders im Forte) ein wenig zu hoch zu intonieren, war indes nicht zu überhören. Sehr schön zunächst die "Adelaide"; ein Höhepunkt dann noch die abschließenden fünf Goethe-Lieder, besonders die Lieder aus op. 75: "Neue Liebe, neues Leben" und das grotesk charakterisierende Flohlied.

Günther Weißenborns Begleitung beschränkte die technische Brillanz auf das Notwendigste, war aber ganz eins mit den Intentionen des Sängers.

Karl Robert Brachtel


   

     Zeitung unbekannt, 27. April 1971     

   

Streifzug durch Münchner Konzertsäle

Wonne der Wehmut

    

Dietrich Fischer-Dieskau sang Lieder von Beethoven. Am Klavier: Günther Weißenborn. Herkulessaal.

Wir wissen, daß Beethovens Genius der absoluten Musik mit dem Melos des Gesanges hart gerungen hat. Und wenn man dort, wo dieser Kampf am härtesten war, keine Spuren davon findet, so bedeutet das jenen Triumph der Kunst, der Beethovens Werk erfüllt und ein Teil seiner zwingenden Macht ist.

Dessenungeachtet bleibt ein erheblicher Rest von Stileigenheit und gesanglicher Anforderung zwischen damals und heute, die den Gesang Beethovenscher Lieder zu einem Problem werden lassen.

Wahrscheinlich gibt es gegenwärtig keinen Sänger, der diesen irdischen Rest so vollständig verschwinden läßt und in ein stilgeprägtes Gegenteil, in klassische Gefühlsüberhöhung, zu verwandeln weiß, wie Fischer-Dieskau. Diese, von hoher künstlerischer Intelligenz getragene Einfühlung des Künstlers, feierte sogleich in den geistlichen Liedern Gellerts Triumphe. Denn hier, musikalisch noch zwischen Arie und Lied schwankend, textlich voll Aufklärungsfrömmigkeit, lauert die Gefahr der Muffigkeit. Fischer-Dieskau jedoch läßt "die Himmel des Ewigen Ehre" stimmlich pastos rühmen und gibt dem Wort "Gott" jene Fülle des Inhalts, die sein Ursinn erfordert.

Faßt man die gesanglichen Mittel, die Fischer-Dieskau verwendet, zusammen, so wird seine große Künstlerschaft erst offenbar. Denn das, was wir mediterrane Stimmschönheit nennen, ist es nicht, was uns an seinem Gesang fesselt. Es gibt offen vokalisierte Töne von ihm, die im Timbre geradezu unschön sind. Und mit seiner "voix mixte", die bei anderen Sängern befremden würde, macht er Dinge, die den Atem stocken lassen.

Innerhalb eines groß gezogenen Liederkreises wie "An die ferne Geliebte" bringt er lyrische Feinheiten von geradezu malerischem Reiz, aus dem vierzeiligen Lied von der "Wonne der Wehmut" projiziert er ein lyrisches Drama.

"Die Kunst bleibt Kunst. Wer sie nicht durchgedacht, der darf sich keinen Künstler nennen", sagte Goethe. Einen klassischeren Beweis für diese These als die Kunst Fischer-Dieskaus wird man gegenwärtig nicht erbringen können.

Günther Weißenborn ist ein so ausgezeichneter Musiker, daß ihn die ausschließliche Beschäftigung mit den Tasten kaum reizt. Man merkt es, doch ist es unerheblich.

A. M.


    

     "Oper und Konzert", München, 6/1971     

   

Herkulessaal

Liederabend Dietrich Fischer-Dieskau

    

Kurze Zeit nur nach Hermann Prey widmete Dietrich Fischer-Dieskau einen ganzen Abend dem Liedschaffen Beethovens. Ein Vergleich wäre fehl am Platz, lieber soll man froh und dankbar sein, daß unserer Zeit zwei so überragende Liedersänger geschenkt sind. Fischer-Dieskau hat Beethovens nur bedingt populäre Lieder oft im Konzertsaal gesungen, sie auf Platten eingespielt. Routine lag ihm dennoch fern an diesem Abend. Sie wird ihm wohl überhaupt zu Unrecht nachgesagt. Was wieder von neuem bestach und begeisterte, ist Fischer-Dieskaus vollendete Stimmbeherrschung und seine makellose musikalische und geistige Gestaltung. Der schlichte, kraftvolle und demütige Ton der Gellertlieder ist ihm ebenso natürlich wie die bebende Unruhe der Goethelieder "Sehnsucht" und "Neue Liebe, neues Leben", und wie er ein in jeder Hinsicht schweres Lied wie "An die Hoffnung" durchgestaltet, ist vielleicht immer noch einmalig. Fischer-Dieskaus schöner, schlanker Bariton war in Hochform, kraftvoll ohne Anstrengung im forte, voll berückenden Wohllauts im piano und mezzavoce.

Günther Weißenborn begleitete einfühlsam und zuverlässig, blieb aber - gewollt oder ungewollt - blaß neben dem Sänger.

Helga Huber


     Süddeutsche Zeitung 26. April 1971

"Fischer-Dieskaus Beethoven-Plädoyer"

     und ebenso in dem Buch "Erlebte Musik – Teil 1" von Joachim Kaiser

"Lieder"

Und wie, wenn Beethoven einfach ein unendlich reineres, empfindsameres, glühenderes, erregbareres Herz besessen hätte als alle anderen, die nun von seiner Kraft zehren, die ihn unaufhörlich spielen, sich Gedanken über die Entwicklung der Sonatenform machen und hochintelligent erklären, was alle Analysen übersteigt? Und wie, wenn dieser bärbeißige, selbstbewußte Außenseiter – man wagt derart Direktes kaum direkt zu formulieren – einfach, indem er seine Musiksprache sprach, in unendlich höherem Maße ein sittlicher, leidender und liebender Mensch gewesen wäre, als es allen Nur-Differenzierten, Nur-Geschickten, Nur-Leidenden, Nur-Musikantischen gegeben ist?

Es waren sogleich und unabweisbar diese Fragen, die sich in Dietrich Fischer-Dieskaus tiefsinnigem Beethoven-Liederabend stellten. Nicht eine Sekunde kam man auf die Idee, noch einmal das längst erledigte Problem zu bedenken, ob denn Beethoven auch als Liederkomponist Bedeutendes geschaffen habe.

Fischer-Dieskaus Stimme scheint an Volumen zugenommen zu haben. Seine Artikulation im Piano ist einsam intelligent, sein in manchmal allzu lautem offenem Ausbruch sich darstellender Lied-Realismus entspricht genau der grandiosen Direktheit, mit der Beethoven die religiösen Menschheitsfragen nach Hoffnung, Glauben, Gott, Buße während aller Epochen seines Komponistenlebens vertonte. Und jenes bei Fischer-Dieskaus Schubert-, Schumann- oder Wolf-Interpretationen manchmal leicht irritierende forcierte Deklamationsübermaß korrespondierte genau dem dynamischen und impulsiven Reichtum der Beethoven-Lieder, die auf keinen Fall klassizistisch abwiegelnd vorgetragen werden dürfen. Fischer-Dieskau hatte merkwürdigerweise die bedeutendsten Stücke, also die Gellert-Lieder (Opus 48) und den Zyklus "An die ferne Geliebte", vor der Pause gesungen. Die Goethe-Vertonungen fielen danach ein wenig ab, weil der Liederkomponist Beethoven gegenüber Goethe um eine Spur unfreier war. Erlebnisse wie die Gestaltenfülle etwa des späten "An die Hoffnung" (Opus 94) oder wie die unirdisch verfremdete Traumstimmung von "Wo die Berge so blau, möchte ich sein" (aus dem Liederkreis "An die ferne Geliebte") hat der Konzertsaal sonst nicht zu bieten.

Es ist momentan üblich, an Fischer-Dieskau herumzunörgeln, und der Künstler hat, wenn er heitere Lieder gelegentlich etwas theatralisch vortrug, Musik auf Gesten reduzierend und mit Gesten verstärkend, gewiß auch einigen Grund dafür geboten. Während der zweiten Hälfte des Konzerts, bei forcierten Stakkato-Heiterkeiten, bei einem, wenn man so will, synthetischen Naturburschentum auf höchster Ebene, konnte man sich dieser Fischer-Dieskau-Kritiken und dieses Unbehagens manchmal erinnern. Doch möglicherweise braucht er ein solches deklamatorisches Überschwenglich-Sein, um bei der Sache zu bleiben, um sein Sensorium zu aktivieren, um nicht risikolos herunterzusingen, was er so gefährlich fabelhaft gut kann.

Günther Weissenborn ist ein hochmusikalischer Begleiter. Er spielt wie ein Kapellmeister, der weiß, worum es geht (aber leider viel zu selten zum Üben kommt). Die raschen Partien waren darum regelrechte Angstpartien. Und um nur eine Einschränkung vorzubringen: In Gellerts "Bitten" müßte doch das Klavier die Melodie vortragen, während der Sänger sechs Takte den gleichen Ton singt. Auch ist eine etwas mechanische "Adelaide" nach einem Dutzend tiefsinniger Kompositionen nicht leicht zu ertragen. Was schließlich die Beziehungen zwischen der "Fernen Geliebten" und Beethovens späten Klaviersonaten betrifft, so scheint mir, daß nicht, wie Fischer-Dieskau behauptet, die Klaviersonate Opus 101 von dem Zyklus zehrt, sondern vielmehr der Variationssatz aus Opus 109, wo Beethoven ja nicht nur im Variationsthema die Takte 5 bis 7 des ersten Liedes zitiert, sondern die erste Variation mit genau demselben Oktav-Vorschlag beginnt, wie ihn hier das Klavier im ersten kurzen Zwischensatz zu spielen hat (Takt 9 bis 10).

Es waren zahllose junge Leute in diesem Konzert, sie hörten mit ruhigster Anteilnahme zu und vermittelten – trotz allen Kulturkrisen-Geredes – den Eindruck, daß Probleme wie die hier zu Diskussion stehenden kein alexandrinischer Müll sind, sondern auch in unsere Welt gehören.

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