Zum Liederabend am 6. Januar 1971 in Berlin


     Die Welt, 8. Januar 1971     

Gesang nicht ohne Schauspielerei

Biedermeier und Romantik: Liederabend Fischer-Dieskau

     

Berlin, 7. Januar 

Aus den 53 Mörike-Vertonungen von Hugo Wolf wählte Dietrich Fischer-Dieskau für sein Konzert in der Philharmonie, in vier Gruppen zusammengestellt, zwanzig Lieder aus, in denen er sowohl die weit gefächerte biedermeierlich textliche Versponnenheit wie auch die oft schwerfällige, düster palettierte, ins Dämonische reichende spätromantische Vertonung mit jedem Wort und jeder Phrase minutiös ausdeutete.

Er verstand es, trotz dieser Gliederung und Akzentuierung weite Bögen zu spannen, Spannungen zu Beginn eines neuen Liedes aufzubauen und bis nach dem Verklingen des letzten Tones zu halten. Dabei bedient er sich einmal des Mittels, textlich durch Kommata getrennte Sinneinheiten zu binden, wodurch ein neuer Sinn entsteht wie zum Beispiel in dem Lied "An den Schlaf": Zum Schluß ließ er das Wort "sterben" in den Ausruf "Ach" über ein weit gezogenes Crescendo hineinschweifen. Zum anderen hielt er die Spannung durch schauspielerische Elemente, wenn er bei "Fußreise" "am frisch geschnittenen Wanderstab" vom etwas hölzern klingenden Klavier losmarschierte oder während des Klaviernachspiels der "Begegnung" mit den Augen das um die Ecke huschende Mädchen durch das Auditorium verfolgte.

Hierdurch jedoch kann Dieskau auch zum Interpreten seiner eigenen Interpretation werden; er begibt sich der Spannung wegen auf außermusikalische Gebiete, in die Aktion, wodurch seine geniale, dem Wort und der Musik adäquate, Interpretation in Frage gestellt wird: er sucht zum Beispiel im Publikum "Vöglein im Laube" (Fußreise), die von Mörike und Wolf nur als Vehikel zur Eigenerkenntnis des Wanderers gebraucht werden. - Der unbestrittene Höhepunkt des Abends war das Lied "An die Geliebte". Dieskau sang es - im wahren und guten Sinn - einfältig, in einer verinnerlichten Heiterkeit.

Jörg Demus gelang es, seine Klavierbegleitung völlig in den Hintergrund zu stellen.

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     Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Februar 1971     

    

Gekonntes und Gewolltes

Solisten und Novitäten in West-Berliner Konzertsälen

     

Auf den Entdeckungsreisen, die Igor Strawinsky als Achtziger durch Mitteleuropas Musik begann, war die Begegnung mit Hugo Wolf die buchenswerteste. Zwischen den Weltkriegen gab es keinen Sänger, der die Lyrik des steirischen Troubadours aus Wagners Nachfolge vernachlässigte; heute ist sein Wirkungskreis auf die anglo-amerikanische Welt beschränkt. Dietrich Fischer-Dieskau, seltene Personalunion von Belcantist und Literaturkenner, hat schon in seinen Berliner Anfängen Programme unter dichterischen Generalnennern geliebt. Nun sang er Wolf in der fast ausverkauften Philharmonie: vier Gruppen Mörike-Lieder. Dabei wurden Arten des Vortrags evident. In Stücken wie "Der Genesene an die Hoffnung" oder "Neue Liebe" fließt die Stimme melodiös und einfarbig dahin, die Stärkegrade bleiben im Mezzofortebereich, die Haltung ist meditierend in sich gekehrt.

Ganz anders in den dramatischen Gesängen. Jäh wechselt die Färbung des Stimmklangs. Neben flüsternde Stellen treten Ausbrüche. Das Podium wird zur Szene. Höhepunkt dieser Kunst war der "Feuerreiter". Seit je war man von der suggestiven Kraft überrumpelt, mit der Fischer-Dieskau die Katastrophe beschwor. Nun geht sein Realismus so weit, daß aus Gesang ekstatisches Sprechen wird. Das sind Grenzen des Liedgesangs, und jeder Geringere müßte gewarnt werden, sich ihnen zu nähern. Doch Fischer-Dieskau findet aus dem Hochdrama mühelos heim zur Lyrik. Im zweiten Programmteil läßt er uns nicht nur am Idyll teilnehmen, sondern auch an einer vergeistigten Heiterkeit, die im Abschluß des Rezensentenliedes zu drastischem Humor wird. Enthusiasmus auch für den Klavierpartner Jörg Demus.

H. H. Stuckenschmidt

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     Der Tagesspiegel, Berlin, 9. Januar 1971     

    

Auch ein Komiker kann er sein

Fischer-Dieskau sang Mörike und Wolf

    

Liederabende nach literarischem Programm zu gestalten, ist bei bedeutenden Interpreten, zumal bei Fischer-Dieskau, der über das Wort-Ton-Verhältnis viel nachgedacht hat, keine Seltenheit mehr. Ein Mörike-Wolf-Abend bietet sich auf dieser Linie geradezu an: kein kompositorisches Schaffen wie das Hugo Wolfs zerfällt derart in Phasen, Zeiten des Schaffensrauschs, die, quälende Perioden fehlender Inspiration ablösend, jeweils von der Auseinandersetzung mit einem Dichter inspiriert wurden.

Die Mörike-Lieder von 1888 hängen am Typus des romantischen Klavierliedes der Schubert und Schumann; die Verselbständigung des Klavierparts indes, die auch quantitative Ausdehnung der Vor- und Nachspiele, Interpretation des Gedichts vorausnehmend oder fortsetzend, kündigt sich an, ebenso die typisch Wolfsche Textdeklamation im huldigenden Dienst am Wort.

Der Dichter der Morgenstimmung, des "Stündleins wohl vor Tag", fand in dem sensiblen Hugo Wolf den kongenialen Vertoner. Fischer-Dieskau hatte mehrere Lieder, die von Morgengrauen, Morgenglocken, Morgensonne, Morgenreise sprechen, auf das Programm seines Liederabends in der Philharmonie gesetzt. Im ersten, "Der Genesene an die Hoffnung", traf der Pianist Jörg Demus im Vorspiel die Atmosphäre so vollkommen, daß der Einsatz des Sängers sich eher spröder ausnahm. Demus hielt im folgenden dieses Niveau nicht ganz.

Fischer-Dieskaus Interpretation zielt auf den Nerv des Wortes, kostet den Klang bis zur Neige aus: "Tag", "Muse", "Schmerzen", "Qual", "Nein". Dies ergibt Inseln im Text, ergibt Exegese, manchmal auch Manierismus - wie man es nennen will, jedenfalls ist es alles andere als schlichtes Verströmen von Baritontönen. Die Tendenz zum Extrem kam im "Feuerreiter" einer erregenden Aktualisierung gleich.

Daß der Humorist Fischer-Dieskau ganz schön hinterhältig sein kann, erfuhr man nach der Pause durch "Begegnung", "Bei einer Trauung", "Zur Warnung" und "Abschied". Wer bei der "Storchenbotschaft" daran gezweifelt haben mochte, ob dies Stück mit komödiantischer Überakzentuierung noch zu retten sei, der mußte der souverän-sarkastischen Komik Fischer-Dieskaus im letzten Teil erliegen. Da verfärbte "Katzenjammer" den Stimmklang zum Erstaunen, und der garstige Tonfall des Rezensenten im "Abschied" war so hämisch-elegant imitiert, als sei nicht, wie vielleicht angenommen, der Hans Sachs die große Zukunftsrolle Fischer-Dieskaus, sondern der Beckmesser.

Sybill Mahlke


   

     Berliner Morgenpost, 8. Januar 1971     

    

Hochgeschätzte Stimme

    

Liederabende verpflichten. Den Vortragenden zur künstlerischen Interpretation des gewählten Liedgutes - das Publikum zur Konzentration und inneren Sammlung. Beide Bedingungen wurden beim Liederabend Dietrich Fischer-Dieskaus in der nicht vollbesetzten Philharmonie erfüllt. Abgesehen von den Hustenorgien - Tribut an die Kältewelle -, die das Haus zwischen den Liedern erschütterten.

Die international geschätzte Baritonstimme bewies an Hugo Wolfs Vertonung von 20 Mörike-Gedichten ihre unversehrte Strahlkraft und bereits vielfach sachverständig unterstrichene Ausdrucksvielfalt. Fischer-Dieskaus überragende Begabung liegt im Erfassen und in der persönlichen Färbung des dichterisch vorgezeichneten Wortes, der angeschlagenen Stimmung.

Der Gesang ist geistiger Nachvollzug des Lese- und Lernvorganges mit einem anderen Mittel. Daß ihm dieses Mittel in vollendeter Schönheit dank pfleglicher Behandlung durch die Jahre unbeeinträchtigt zur Verfügung steht, erhält ihm die Zuneigung und Bewunderung seiner großen Gemeinde.

Beim Vortrag benutzt er nie eingefahrene Geleise. Stets ist er auf der Suche nach neuen Wegen der Interpretationsmöglichkeit, erkämpft sich einen zweiten und dritten Zugang zum sprachlich formulierten Gedanken. Dabei macht er heute kaum noch zuträgliche Lyrismen durchaus noch anhörbar, indem er mit feinem, teils auch ironischem Witz die üppig wuchernden Blumen der Romantik knickt.

In Jörg Demus hatte der Sänger den idealen Begleiter, der zu Recht in den brausenden Beifall des Philharmonie-Publikums einbezogen wurde.

H. F.


    

     B.Z., Berlin West, 8. Januar 1971     

    

Ein Abend mit Dietrich Fischer-Dieskau

Kühle Kunst

     

Die künstlerische Intelligenz von Dietrich Fischer-Dieskau ist bereits am Programm ablesbar. Es enthielt nur Mörike-Lieder von Hugo Wolf. Aber was bei Wolf auf verschiedene Hefte verstreut ist, ordnet er so, daß es sich zum Zyklus zusammenfügt und partienweise zur Beichte eines bedrängten Herzens wird.

Augenblicke höchster Erfüllung gab es immer dann, wenn er in Liedern wie "Der Genesene an die Hoffnung", "In der Frühe", "Peregrina" von der Qual durchlebten Leids oder vom geahnten und ersehnten Glück sang. Völlig neu war die ätzende Schärfe, die er grotesken Stücken ("Bei einer Trauung") versetzte.

Sein kostbarer Bariton - hat er in der Tiefe an Klangvolumen verloren? - gibt jede erforderliche Ausdrucksnuance her, die Leuchtkraft ebenso wie den Schmelz eines schwebenden Pianos, und in der "Warnung" sogar die täuschend imitierte rauchige Heiserkeit des Verkaterten.

Immer hört man ihm fasziniert zu. Und doch fragt man sich, ob hier das intellektuelle Kalkül die Sezierung der Liedinhalte nicht zu weit treibt, den Neurotiker in Wolf nicht stärker betont als den Künstler, und die Gebilde Wolfs, die ohnehin einen schwachen formalen Halt haben, völlig der expressionistischen Gebärde ausliefert. Den Grenzfall bildete der "Feuerreiter".

Er singt ihn nicht, er rezitiert ihn, bizarr im Ton und in der oft heftigen Gestik, wie ein Gaukler, wie ein diabolischer Bänkelsänger. Man ist frappiert. Man bewundert die "Machart", die musikalische Goldschmiedekunst. Aber man bleibt innerlich kühl.

Bei anderen Liedern geht es dem Hörer ähnlich. Man kann "An die Geliebte", so möchte man meinen, nicht inniger singen, und doch, seltsam genug, ist man nicht ergriffen. Jörg Demus traf am Flügel vor allem den Ton des Halblauten.

Kurt Westphal


    

     Telegraf, Berlin-West, 8. Januar 1971     

    

Sternstunde

Liederabend Dietrich Fischer-Dieskau in der Philharmonie

     

Zu einer Sternstunde des Liedgesangs hatten Dietrich Fischer-Dieskau und Jörg Demus geladen. Zwanzig Mörike-Lieder von Hugo Wolf standen auf dem Programm, erst nach vier Zugaben entließ das Publikum in der Philharmonie die beiden Meister. Demus vermittelt die Stimmung und Atmosphäre des Wolfschen Melos, Fischer-Dieskaus Interpretation hob die Grenzen zwischen Sprache und Musik auf. Er scheut vor Kurzszenen nicht zurück, immer aber behält die wunderbare und modulationsreiche Stimme den Primat. Fischer-Dieskau überzeugt immer, am meisten jedoch, wenn er starke, ungebrochene Gefühle vermittelt. Dann vermag er das Auditorium in einen Zustand der Entrückung zu versetzen. Aber er verläßt sich nicht auf's Leid, er unterwirft sich auch der Fröhlichkeit, obwohl diese nicht unbedingt seine Domäne ist.

W. L.

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     Der Abend, Berlin-West, 7. Januar 1971     

    

Meistersinger in Berlin

Dietrich Fischer-Dieskau in der Philharmonie

     

Nach dem Festwochenabend mit zeitgenössischen Liedern begab sich Dietrich Fischer-Dieskau wieder in vertrautere Bezirke zurück. Er sang gestern in der bis auf die Treppenstufen besetzten Philharmonie zwanzig Lieder von Hugo Wolf, die dieser 1888 in einem Wiener Vorort auf Gedichte von Eduard Mörike komponierte, insgesamt mehr als 50.

Man könnte sich damit begnügen, auch nach diesem Liederabend des gefeierten Baritons zu konstatieren, in wie glänzender stimmlicher Verfassung er war, wie genau er wieder dem Ton-Wort-Verhältnis nachging und wie vollendet seine Gestaltungskunst den Liedinhalt ausschöpfte.

Aber man muß mindestens noch hinzufügen, daß er dessen Natur sonst den dunklen Farben des Ausdrucks zuneigt, sich diesmal seiner komischen Kraft  (wie auf der Bühne als Falstaff) entsann und den humoristisch getönten Liedern in Ton und Gebärde zu stärkerer Wirkung als früher verhalf. Die gute Laune setzte sich spürbar in musikalische Leistungsfreude um, so daß er sich noch zu vier Zugaben animieren ließ.

W. S.

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