Zum Liederabend am 27. Januar 1970 in Berlin


Tagesspiegel, Berlin, 29. Januar 1970

Interpretationswandel

Fischer-Dieskaus "Winterreise"
Porträt Haubenstock-Ramati

Wer heute das Wort "Winterreise" hört, assoziiert mit großer Wahrscheinlichkeit auch den Namen Dietrich Fischer-Dieskau. Dieser Liederzyklus ist wie kaum ein anderer für unsere Zeit mit der Erfahrung Fischer-Dieskaus verbunden, ihrem Gewinn an Erkenntnis durch große, individuelle Auseinandersetzung und ihrer Gefahr – zumal des Epigonentums. Fischer-Dieskau selbst hat mit diesem Werk wie mit keinem anderen gegen Erinnerungen und Schallplatten anzusingen: er tut es in der ausverkauften Philharmonie mit offenkundiger Zustimmung von über 2000 Menschen (deren Husten-Entladungen in den Zäsuren der Darbietung allerdings immer wieder die Problematik solcher Abende in zu großen Räumen deutlich machten).

Es wurde keine Kopie des frühen Fischer-Dieskau. Die Interpretation ist schillernder, zweifelnder in ihrer Haltung geworden. Ein Anflug von Sarkasmus färbte schon das erste Lied, "Gute Nacht", besonders die Worte "Die Liebe liebt das Wandern" anders ein. Auch Fischer-Dieskaus Verhältnis zur Romantik Schuberts, die ihn geformt und berühmt gemacht hat, scheint nicht mehr ungebrochen. Der Zyklus stellt sich mehr denn je als das Bild einer zerstörten Welt dar. Daß romantische Todessehnsucht in der Interpretation Züge von intellektuellem Fatalismus angenommen hat, ist unüberhörbar. Der ganze Abend ist Auseinandersetzung.

Dynamisch mußte der Sänger zu Beginn dem großen Saal entsprechen, der die größere deklamatorische Geste verlangt. Erstaunlich, wieviel Intimität er sich dennoch schon im dritten Lied, "Gefrorene Tränen", leisten konnte: die Regionen des sehr Leisen wie des extremen Forte, in dem reiner Bariton-Schönklang nicht mehr möglich ist, bauen auf das Einverständnis des mitdenkenden Hörers. Der Wolfram-Ton des frühen Fischer-Dieskau schein in den lyrischen Partien – "Frühlingstraum", "Die Nebensonnen" – unverändert.

Problematisch, daß es einen Liedbegleiter von der Art Gerald Moores heute offenbar nicht gibt. Bei ganz seltenen und gewiß kostspieligen Gelegenheiten arbeitet Fischer-Dieskau mit Svjatoslvaw Richter zusammen: eine Verbindung für Festivals, in deren Genuß Salzburg in diesem Sommer kommen wird. Hier begleitete Karl Engel: ein kultivierter, um Anschlagsfarben besorgter Pianist, kein Interpret des vertonten Wortes, wie es sich in Harmonik und Bewegung des Klavierparts spiegelt.

S. M.

*

[...]

zurück zur Übersicht 1970
zurück zur Übersicht Kalendarium