Zum Liederabend am 25. Oktober 1969 in Marburg


Oberhessische Presse, Marburg, 27. Oktober 1969

Ohne Konkurrenz

Zu dem Liederabend Dietrich Fischer-Dieskaus mit Goethe-Vertonungen

Man lese das Programmheft und man hat den ganzen Dietrich Fischer-Dieskau. In dem Aufsatz über die Vertonungen von Goethe-Gedichten stehen nicht nur "goldene Worte", sondern was der Sänger über Goethes Verhältnis zur Musik - ein umstrittener und durch die falsche Einschätzung von Zelters Einfluß auf den Dichter auch mißdeuteter Komplex - geschrieben hat, ist so vielsagend und bedeutend, daß man daraus zu erkennen vermag, wie sehr Fischer-Dieskau nicht nur seine Stimme, sondern auch seinen Intellekt, ja seine ganze Persönlichkeit für das Kunstlied in die Waagschale wirft.

Aus der Mitte der Persönlichkeit heraus zu gestalten und den geistigen Raum aufzubrechen, in dem sich diese am schwersten zugängliche musikalische Form abspielt, ist ihm wie keinem anderen gegeben und das ist es, was ihn als Liedersänger konkurrenzlos dastehen läßt. Gewiß ist Fischer-Dieskau ein Star, wenn man seine Anziehungskraft nach außen dafür als Maßstab nimmt, ganz sicher aber ist er seiner ganzen Art nach nicht der Typ des Künstlers, der um jeden Preis populär sein will und die Popularität mit allen Mitteln erkämpft. Seine Programme sind fast von einem konsequenten Ausweichen vor dem Gängigen und Beliebten gekennzeichnet. Daß es trotzdem zu einer Faszination von enormer Breitenwirkung kommt, die sogar Kreise erfaßt, denen das Lied wenig oder gar nichts sagt, ist wahrscheinlich darin begründet, daß dieser Sänger über die attraktiven Fähigkeiten seiner Stimme hinaus das Gesungene so verständlich machen kann, daß auch der Unkundige in den Liedern wie in einem aufgeschlagenen Buch liest.

Längst ist Fischer-Dieskau über die Rolle des bloß reproduzierenden Künstlers hinausgewachsen. Sein überragender Intellekt forderte ihn immer wieder zu grundsätzlichen Überlegungen heraus und aus dieser Auseinandersetzung entstand eine fruchtbare Wechselwirkung, die auf die Gestaltung der Lieder einen tiefen Einfluß genommen hat. Am Beispiel seines Marburger Liederabends, der ausschließlich Kompositionen zu Goethe-Gedichten enthielt, wurde dies deutlich. Es gibt gewiß dankbarere Aufgaben, als an einem Abend exemplarisch Stilarten und Möglichkeiten der Liedkomposition aufzuzeigen, und wäre es nicht ein Fischer-Dieskau, der sich dieses Themas angenommen hätte, wie leicht hätte dieses Unternehmen zu einem Trockenkursus musikalischer Gelehrsamkeit werden können, zumal die vorgestellten Lieder nicht von gleichwertiger Qualität waren. So aber wurde dieser Abend zu einer lebendigen künstlerisch hochwertigen Auseinandersetzung mit der Ausdrucksform Lied, wobei man den Eindruck gewinnen konnte, daß Fischer-Dieskau bewußt seine Popularität für etwas wenig Populäres einsetzt.

Nimmt man allein die Stimme Fischer-Dieskaus, so ist es schwer, nicht ins Schwärmen zu geraten und nur eine kritische Pflichtübung zu absolvieren. Ihre ungeheure Modulationsfähigkeit erlaubt es dem Künstler, auch die feinsten Schattierungen des Textes aufzuspüren und die Gesangslinie so abzutasten, daß die Proportionen von Wort und Musik einen fast absoluten Grad der Vollkommenheit erreichen. Das gilt gleichermaßen für Lieder mit dramatischer Aussagekraft wie für die meditativen Charakters, wobei die Endlosigkeit einer Schubert-Melodie ebenso einer reflektierenden Textgestaltung unterzogen wird wie etwa die wilde Virtuosität einer Busoni-Komposition. Es ist kein unverbindlicher Schöngesang - sogar ein paar rauhe Töne kommen vor - den Fischer-Dieskau anstrebt und seine Gesangstechnik, die aller Bewunderung wert ist, wird nicht Selbstzweck, sondern jedes Werk wird allein dadurch plausibel, daß es bis in seinen innersten Kern erfaßt und gedeutet ist.

Dietrich Fischer-Dieskau begann mit drei Liedern von Goethe-Zeitgenossen, bei denen der Interpret den Komponisten unter die Arme greifen mußte. Weder Herzogin Anna Amalias "Auf dem Land und in der Stadt" - trotz eines hübschen und charmanten Grundeinfalls - noch Reichardts bemühte Vertonung von "Feiger Gedanken bängliches Schwanken" oder gar Zelters "Gleich und gleich" werden den Charakter des Biederen so recht los. Erst Beethoven gelingt es, die naive strophische Kompositionsweise zu überwinden, etwa in dem "Mailied", mit dem Fischer-Dieskau die atemlose Frühlingserwartung glanzvoll darstellte. (Seine Kunst des schnellen Singens und des unvermittelt aufspringenden Tonansatzes ist geradezu phänomenal.) Bei Schubert lohnt es sich schon länger zu verweilen, auch weil sich hier die Spannweite von Fischer-Dieskaus Interpretationsfähigkeit am deutlichsten dokumentierte. Man kann sich kaum einen stärkeren Gegensatz vorstellen als zwischen dem dramatisch gestalteten "Erlkönig", der durch die Verwendung verschiedener Stimm-Register szenische Kraft erhielt, und dem unendlich stillen "An den Mond", in dem der Künstler von Strophe zu Strophe die Melodie durch feinste Modulationen neu formulierte und selbst innerhalb einer ruhigen Gesangslinie Kontraste schuf, ohne daß der Fluß der Kantilene dadurch berührt wurde. Bedürfte es noch eines Beweises von Fischer-Dieskaus einsamer Stellung unter den Liedersängern, würden allein diese beiden Beispiele genügen. Ähnlich konträr waren das mächtige "An Schwager Kronos" (man erhielt einen Begriff von der Stimmgewalt des Opern-Sängers Fischer-Dieskau) und das durch ein unvergleichlich schönes Pianissimo geprägte Lied "Meeres Stille" gestaltet.

Stärker als die Kompositionen von Schumann und Brahms - hier ist der Klavierpart interessanter als die Singstimme - wirkten die Vertonungen "jüngeren" Datums, etwa die den Goetheschen Vers aufspaltende von Max Reger, die zarte und innige Weise von Richard Strauss, die von einer spannungsvoll vibrierenden Melodie getragene Textübersetzung von Othmar Schoeck und schließlich das grandios wilde und zugreifende Zigeuner-Lied von Ferruccio Busoni, das Fischer-Dieskau zu einer mit einem gespenstisch-fahlen Hauch überwehten Beschwörung gestaltete. Das fast als Herausforderung an den Kunstverstand des Publikums gestaltete Konzert klang aus mit fünf Hugo-Wolf-Liedern, die noch einmal den Nuancenreichtum dieser Stimme und das spirituelle Einfühlungsvermögen Fischer-Dieskaus aufzeigten.

Mit Günther Weißenborn saß ein herrlich korrespondierender Begleiter am Flügel, der sich nie auf die Position unverbindlicher Diskretion zurückzog, der kraftvolle Akzente setzte und die Vor- und Nachspiele zu einer Demonstration überlegener pianistischer Könnerschaft nutzte. Daß er die Intentionen des Sängers stets zu übersetzen wußte, versteht sich bei einem Begleiter von seinem Range fast von selbst. Der Beifall, der Zugabe um Zugabe forderte, war so enthusiastisch, wie ihn Marburg seit Jahren nicht erlebt hat.

Theodor Geus

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