Zum Konzert am 7. September 1969 in Münster


Westfälische Nachrichten, 9. September 1969

Fünfzig Jahre das Fundament des städtischen Musiklebens

Jubiläumskonzert des Symphonieorchesters der Stadt Münster unter R. Peters

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Die in der Tradition hochromantischer Ausdruckskunst entstandenen "Lieder eines fahrenden Gesellen" nach eigenen Texten des 24jährigen Gustav Mahler wirken durch den oft volkstümlichen Duktus ihrer höchst kantablen Singstimme und den bis ins letzte Detail gekonnten Orchesterpart. Dietrich Fischer-Dieskau sang die vier traurigen Lieder mit unübertrefflicher Ausdruckskraft, die Schönheit dieser einzigartigen Stimme ließ sogar die Höchstleistung einer technischen Perfektion vergessen, in der es einfach kein Versagen gibt. Dazu erklang der überwiegend kammermusikalische, schwierige Orchesterpart in einer Vollkommenheit, die dem Niveau des großen Sängers angemessen erschien.

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Rudolf Reuter


  

     Münstersche Zeitung, 9. September 1969     

  

Nachvollzug als prägendes Stilmittel

Dietrich Fischer-Dieskau als Gast beim Jubiläumskonzert des Symphonieorchesters

     

Jeder Komponist stellt an seine nachschaffenden Interpreten die primäre Forderung, sich mit seinem Werk intensiv auseinanderzusetzen. Erst exaktes Studium vermittelt eine genaue Erkenntnis des Aufbaus und der Strukturen, die für die Deutung als prägende Stilmittel unerläßlich sind und letztlich zu Nachvollzug und künstlerischer Identifikation führen. Dieses Postulat schließt in gleichem Maße Eigenmächtigkeiten aus wie es auf der anderen Seite dem Zuhörer das Einfühlen und das Verständnis für ein Werk erleichtern. Und gerade in jenen seltenen Fällen, in denen sich dem Verantwortungsbewußtsein eines nachschaffenden Künstlers dem Werk gegenüber ein scharf analysierender Geist und wache Intelligenz zur Seite stellen, werden Kunst und Wiedergabe zu einem besonderen Erlebnis.

Ein solches Erlebnis hatten auch jene münsterschen Musikfreunde, die dem Jubiläumskonzert aus Anlaß des 50jährigen Bestehens des Symphonieorchesters im Großen Haus der Städtischen Bühnen beiwohnten und Dietrich Fischer-Dieskau mit seiner Wiedergabe der "Lieder eines fahrenden Gesellen" von Gustav Mahler erlebten. Über diesen Künstler ist während seiner großen Laufbahn schon so viel Rühmliches geschrieben worden, und immer wurde dabei seine Kultiviertheit besonders hervorgehoben. Immer wieder faszinieren auch die großen Phrasen, mit denen Fischer-Dieskau die verschiedenen Teile eines Werkes verbindet und ihnen dramatische Akzente abgewinnt.

Die Ursache für dieses Vorgehen dürfte darin zu suchen sein, daß er wie kaum ein anderer Sänger seine Interpretationen auf einer Durchleuchtung der Texte aufbaut. Das hat ihm verschiedentlich den Vorwurf der Manieriertheit eingebracht. Doch was auf Schubert-Lieder bezogen vielleicht seine Richtigkeit hat, gilt nicht für die Wiedergabe von Mahlers "Lieder eines fahrenden Gesellen".

Bei Mahlers frühem Liedschaffen, vielleicht als unbewußte Vorstudien zu seinen späteren Sinfonien zu verstehen, steht das deklamatorisch-dramatische Moment im Vordergrund. Auch die Musik wird dem Prinzip Inhalt und Aussage vor Formen untergeordnet. Diese Verwandtschaft macht es Fischer-Dieskau verhältnismäßig einfach, sich mit dem Werk zu identifizieren, d.h. die von Mahler selbst verfaßten Texte mit geradezu suggestiver Intensität nachzuvollziehen. Seine in allen Lagen und Höhen gleichermaßen ausgewogene Stimme, sein kluges Disponieren und der dramatische Aufbau, der einem Höhepunkt zustrebt, potenzieren die Wirkung.

Daneben mußten beinahe notgedrungen die beiden anderen Darbietungen des Jubiläumskonzerts verblassen: das Vorspiel zu "Die Meistersinger von Nürnberg" von Richard Wagner und sogar die IV. Sinfonie von Johannes Brahms. Allerdings soll diese Feststellung in keiner Weise weder die Verdienste von Generalmusikdirektor Reinhard Peters noch gar der städtischen Symphoniker schmälern. Sie erwiesen sich bei Mahlers Werk als durchaus gleichwertige und kongeniale Partner für Fischer-Dieskau.

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Dieter Kölmel

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