Zum Liederabend am 27. Mai 1969 in Berlin


Berliner Morgenpost, 29. Mai 1969

Die Wehmut hatte das Wort

Bariton Dietrich Fischer-Dieskau sang Schubert-Lieder

Für Dietrich Fischer-Dieskau sind Schubert-Lieder ein Bereich, der sich ihm mit immer wieder verblüffender Selbstverständlichkeit erschließt. Hier gibt er seiner gelegentlichen Neigung zum Überpointieren am wenigsten nach und setzt die nuancierten Mittel seiner Stimmkultur höchst diszipliniert ein.

Sein Liederabend in der Philharmonie, dessen dichtgedrängtes Auditorium er zu konzentrierter Aufmerksamkeit zwang, enthielt Arbeiten aus den letzten neun Jahren des Wiener Meisters. Die dargebotene Auswahl bevorzugte selten gehörte Gesänge voll wehmütiger Idyllik, die der Komponist nur durch überragende Kunstfertigkeit weit über die Mittelmäßigkeit der Texte hinausgehoben hatte. Das Programm war daher nicht besonders abwechslungsreich; lediglich die Ballade "Der Zwerg", ein Glanzstück Schubertscher Formkraft, brachte eine andere Farbe in die Abfolge der Innerlichkeits-Lyrik.

Die Klavierbegleitung hatte der hochsensible Jörg Demus übernommen. Seit Gerald Moore ist kaum ein besserer Mitarbeiter für Dietrich Fischer-Dieskau denkbar.

-w-


    

     Berliner Zeitung, 29. Mai 1969     

   

König der Sänger

   

Fischer-Dieskaus Liederabend in der Philharmonie war diesmal Schubert gewidmet: selten zu hörende Lieder aus den letzten neun Lebensjahren des mit 31 Jahren verstorbenen Genies. Fischer-Dieskau ist der einzige, der die Welt dieses größten frühvollendeten Musikwunders aller Zeiten ganz erfaßt, der einzige, der die Höhenwanderung zwischen Himmel und Abgründen hörbar werden läßt. Er ist mehr als ein Sänger: ein Mitschöpfer, der durch Betonungen und Brechungen der Linien, durch Einführung einer unerreichten stimmlichen Farbskala Tiefen auslotet, die Schubert allenfalls mit dem inneren Ohr gehört haben mag. Erst durch Fischer-Dieskau weiß man, daß es sie gibt. Verfeinerung und Ungekünsteltheit sind bei ihm eins, ebenso Geist und Stimmkraft, Eleganz und Schlichtheit, inneres Wollen und äußeres Vollbringen. Jeder Ton ist fast eine kompositorische Tat. Unvergleichlich, wie er in dem Lied "Der Winterabend" "in eine schöne, verschwundene Zeit" taucht. Durch Dunklerfärben, durch Transparenz und Leichtigkeit ruft er die Illusion einer lichteren Welt hervor, die jeden anrührt. Nicht nur Klangteppich für den Sänger, sondern Mitinterpret am Klavier war Jörg Demus. Viele Zugaben, ein gebanntes Publikum, das den größten Liedersänger unserer Zeit nicht ziehen lassen wollte.

Wy.


   

     Tagesspiegel, Berlin, 29. Mai 1969     

   

Lieder vom Tod

Schubert-Abend Dietrich Fischer-Dieskau

    

Das erste Lied wurde reflektierend in Frage gestellt durch das zweite, das dritte durch das vierte: Konfrontationen, die nur einem kritischen Geist unter den Sängern wie Fischer-Dieskau gelingen können. Er gab seinem Schubert-Abend in der ausverkauften Philharmonie mit der Theodor-Körner-Vertonung "Auf der Riesenkoppe" den machtvollen Auftakt eines idealisierenden Heimat-Hymnus aus der Tradition der "Laudes patriae" und ließ darauf Friedrich Schlegels "Wanderer" folgen, die skeptische Heimatsicht des Zynikers, des Verteidigers von Wandel und Wechsel. "Prometheus", der Skeptiker und zynische Empörer gegen Zeus, sah sich dem sehnsüchtigen Positivismus der Schillerschen "Götter Griechenlands" gegenübergestellt mit dem melodisch rührenden Refrain: "Kehre wieder, holdes Blütenalter der Natur!" Als distanzierendes Satyrspiel schließlich Schlegels "Vögel".

Der zweite Teil der in der Chronologie der Entstehung gesungenen Liedreihe war Auseinandersetzung mit dem Tod; "Der Zwerg" und "Wehmut" (Matthäus von Collin), "Totengräbers Heimweh": Gesänge und Tänze des Todes machten von hier an das gesamte Programm zum Versuch einer sinnbezogenen Auswahl aus dem Schaffen eines mit 31 Jahren vollendeten Komponisten. "Nacht und Träume" von Collin, "Der Wanderer an den Mond" (der den Heimatgedanken aus pessimistischer Sicht wieder aufnimmt) und das "Zügenglöcklein", beide von Johann Gabriel Seidl, schließlich vier Lieder nach Karl Gottfried von Leitner - "Der Kreuzzug", "Des Fischers Liebesglück", "Der Winterabend", "Die Sterne" - gaben eine Impression von der Nachtseite der Romantik, der als Symbolbilder Mond und Sterne leuchten. Leben und Tod sind sich nicht feind, sie verschmelzen zu einem Bild, in dem Licht und Schatten, Dur und Moll, changieren. Die Musik findet den Ausgleich von Ästhetik und Transzendenz, von Genrebild und Gleichnis - das beschauliche Leben eines Mönchleins ist "auch ein Kreuzeszug in das gelobte Land". Die Musik erleichtert dem Sänger heutiger Zeit zudem die Identifizierung mit den Texten.

Der Betrachtung und Deutung bieten Fischer-Dieskaus Liederabende vielfältige Aspekte - Beweis ist die Resonanz seiner ambitionierten, kompromißlosen Programme beim Publikum.

Die kammermusikalische Übereinstimmung mit dem Klavierpartner Jörg Demus, die technische Beherrschung des Gesangs, die Individualität der Baritonstimme, deren Timbre sich immer mehr aufzuhellen scheint, die Wortakzentuierung, der äußerst differenzierte Vortrag bieten jeglichem Interesse sein Teil. Sieben Zugaben besiegelten wiederum den Kontakt mit dem Auditorium, wie ihn kaum ein anderer Interpret herzustellen weiß.

Sybill Mahlke


    

     Telegraf, Berlin, 29. Mai 1969     

    

Dunkler Glanz

Dietrich Fischer-Dieskau sang Schubert

    

Man könnte ihn den Sänger des Todes nennen. So vielseitig er ist, so unendlich tief er in alle Bereiche des Fühlens vordringt, immer wenn Dietrich Fischer-Dieskau an die Frage der Vergänglichkeit rührt, ist er am größten. Er tat es an diesem Schubert-Abend in den Liedern "Die Götter Griechenlands", "Der Zwerg", "Wehmut" und "Totengräbers Heimweh", das wohl überhaupt der Höhepunkt war, doch selbst das zugegebene "Im Abendrot" erhielt seine Weihe durch den dunklen Glanz, der es in seiner wahrhaft wunderreichen Interpretation umgab.

Fischer-Dieskau, im Grunde nie sich wiederholend - wieviel abgründiger war der "Zwerg" diesmal als vor Jahren -, immer der großen Lockung von "Gestaltung, Umgestaltung" hingegeben, hat diesmal die Lieder Schuberts in chronologischer Folge angeordnet. Wieder sind seltene, kaum bekannte, unbekannte darunter, wie Körners dichterisch gewiß schwächlicher Begeisterungserguß "Auf der Riesenkoppe", Mayrhofers "Wohin, o Helios?", Seidls "Das Zügenglöcklein" und drei Lieder auf Texte Leitners.

Fischer-Dieskaus Bariton ist samten und weich wie je. Die Opernruhe hat alle Schönheiten ihres Klanges und ihres Timbres, die man schon der Kraft geopfert glaubte, zurückgebracht. Fast will es scheinen, als sei das Piano in der Höhe ("Hinauf zur lichtdurchwirkten blauen Ferne" im "Zwerg") noch leuchtzarter und ätherischer. Über seine meisterliche Phrasierung und seine Nuancierung zu sprechen, hieße das Wunder rationalisieren zu wollen.

Die letzten Worte von Schlegels "Wanderer": "Doch allein", singt er mit melancholischem Ernst. Hier kann ich ihm nicht zustimmen, sie sind, wie ich glaube, heiter gemeint, Dieser Wanderer liebt sein Alleinsein. Den einfühlsamen Partner am Flügel hatte Dietrich Fischer-Dieskau in Jörg Demus.

K. W.

zurück zur Übersicht 1969
zurück zur Übersicht Kalendarium