Zum Liederabend am 9. November 1967 in Heidelberg


Rhein-Neckar-Zeitung, Datum unbekannt 

Dietrich Fischer-Dieskau

Schumann-Liederabend in Heidelberg – Am Flügel: Günther Weißenborn

"Dann löst sich des Liedes Zauberbann..." heißt es bei Heinrich Heine in dem Gedicht "Mit Myrten und Rosen", das am Ende des Liederkreises op. 24 von Robert Schumann steht.

Des Liedes Zauberbann. Das trifft die Intuitionsgabe Schumanns und die Stimme Dietrich Fischer-Dieskaus, von der ein Zauber ausgeht. Ein Zauber, der betroffen macht und der den Hörer verwundert festhält. Der ihn das Staunen lehrt über den Reichtum des eigenen Herzens und der Gemeinschaft stiftet. Auch die bitterste Heinesche Ironie bewahrt im Vortrag Fischer-Dieskaus die stumme Gebärde des Hilferufs nach Trost, nach Verstehen, nach Wärme, nach Menschlichkeit, nach dem Hauch der Liebe. Wer mit solcher Ehrlichkeit und Lauterkreit der Empfindung singt, trägt das eigene Herz zu Markte. Bei Fischer-Dieskau ist jedes Wort wahr. Auch wenn er von "Blaublümelein" singt ist das kein Anknüpfen an ein blasses romantisches Utensil, sondern dann entsteht dahinter auf einmal eine Wirklichkeit, die beim Lesen dieses Wortes einfach stumm bleibt. Der Verwertbarkeit und Steuerbarkeit des Gefühls stellt Fischer-Dieskau den Adel und die Würde des der Empfindung fähigen Menschen gegenüber. Es ist neben der verschwenderisch ausgestatteten Stimme das Angebot, Mensch zu sein, was seine Kunst wie das bleibende Wort des Dichters auszeichnet.

Jede Strophe eines Liedes, die Fischer-Dieskau singt, ist eine Welt für sich. Schon im Ansatz des Tones liegt der Schlüssel, der das Wort aufschließt. Jedes einzelne Lied wirkt wie von innen heraus aufgeblättert, mit keinem Buchstaben analysiert – aber wie aus einem Samenkorn wachsend und blühend und Frucht bringend. Kein Gegensatz ist denkbar, den der strömende Wohllaut dieser herrlichen Stimme nicht umschlösse und vergoldete. Makellos zieht sich das reine Timbre von der Tiefe in die Höhe und klingt selbst in dem weichen Hineingleiten in die Kopftöne noch nach. Keine Spur einer Schwäche oder auch nur Ermüdung im Atem oder in der Aussprache: ein substantielles Singen, groß und meisterhaft in seiner Anlage, das heil und heilend seine Schönheit verschenkt.

Da glaubt man, seinen Heine einigermaßen zu kennen, und muß doch sehr rasch sehen, wie grob und roh diese Kenntnis oft ist. Welche Abgründe durchmißt Fischer-Dieskau fast nur mit der Kopfstimme etwa in "Anfangs wollt ich fast verzagen", oder welche Einsamkeit und welchen die Liebe verderbenden Frost steckt er ab in "Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht", oder welche koboldhafte Laune und Schemenhaftigkeit läßt er wiederum in "Mein Wagen rollet langsam" mitschwingen! Und dann die ganz andere Welt der Geibel-Lieder: die mit dem Herzblut gesungene "Melancholie", der völlig entgegengesetzte "Hidalgo" mit einer die Liebeshändel verherrlichenden Unbekümmertheit bis zu der trotzigen, sich reckenden Romanze "Der Kontrabandiste"; man liest ein Gedicht, wenn man es von Fischer-Dieskau gesungen gehört hat, hinterher anders. Diese Verwandlungskraft bezeugt am ehesten die jeder Eitelkeit bare Höhe seiner Kunst. Bei ihm trifft das Wort vom begnadeten Sänger zu. Homerische Kraft und Fülle des Wortes weht aus seinem Vortrag.

In Günther Weißenborn hat Dietrich Fischer-Dieskau einen Begleiter gefunden, der jede Silbe des Gesangs in sein Spiel übersetzt. Er überträgt Stimmwerte in Anschlagswerte. Seine Nachspiele sind Lieder ohne Worte. Er begleitet aus einem gemeinsamen künstlerischen Pulsschlag heraus; eigenständig, ohne die Harmonie zu verletzen und mit einer Symmetrie im Musikalischen, die es ihm erlaubt, die Kopfstimme Fischer-Dieskaus mit einem verlöschenden Pianissimo noch zu unterlaufen. Ein brüderliches Paar ihrer Kunst nach und in dieser Kunst durch keine Rangfolge unterschieden.

Die Menschen strömten am Ende des Abends nach vorn an die Rampe, als wollten sie Dietrich Fischer-Dieskau festhalten. Ist es nicht eine Antwort auf seine das Herz des Menschen suchende und ihm den Wert bestätigende und schenkende Kunst, daß es vor allem die Jugend war, die ihm so begeistert und ausdauernd applaudiert hat?

hdw


Heidelberger Tageblatt, 11./12. November 1967     

    

Robert Schumann – Verzicht und Erfüllung

Dietrich Fischer-Dieskau sang im 2. Meisterkonzert –
Am Flügel: Günther Weißenborn

     

Ich weiß nicht, wer außer Fischer-Dieskau es heute wagen könnte, mit einem reinen Schumann-Programm vor eine überfüllte Stadthalle zu treten. Das Lied ist ja ohnehin seit langem Stiefkind unserer Konzertsäle, aber wer sich seiner annimmt, sucht mit einer Folge von Mozart bis Reger wenigstens alle Möglichkeiten, die es in den verschiedenen Handschriften bietet. Nicht so Fischer-Dieskau. Er kennt an diesem Abend keinen Schubert, kennt keinen englischen Brahms, keinen humoristischen Wolf und keinen ritterlichen Pfitzner, er verzichtet, obwohl der Bühne doch so nahestehend, auf eine balladeske Dramatik und so gut wie ganz auf Musik und Geste, die nur in den abschließenden Zigeunerliedchen nach Geibel, sorgsam an der Leine geführt, hereingelassen werden. Fast wie eine Statue mit immer ruhig herabhängenden Armen trägt er seine 22 Lieder aus den Zyklen nach Heine, eingeleitet mit der "Widmung" und dem "Nußbaum", gleichsam um den Kontakt herzustellen, vor. Wahrlich ein grandioser Verzicht, ein Beschränken auf eine Enge, die durch die wenigen Dichternamen noch betont wird, und die sich nur jemand leisten kann, der sich seiner Sache, seines Ziels und des Wegs ganz sicher ist.

Denn auf diesem engbegrenzten Raum geht Fischer-Dieskau nun allerdings mit uns unbarmherzig in die Tiefe. Es wird ein Wort von ihm überliefert, das nun wohl doch hierher gehört. Nach der inneren Zielsetzung seines Singens gefragt, verwies er einmal "auf das stille, getroste, strenggläubige Vermächtnis unserer Kulturseele, das sich in den Namen und Werken der Dichter und Musiker spiegelt". Wer diesen Abend miterlebte, weiß, was das für ihn heißt. Das "stille Vermächtnis" nimmt von ihm Besitz, und er ist jetzt gleichsam nur noch Werkzeug, nicht mehr Gestaltender im üblichen Sinne. Sein Piano besonders klingt, als ob es nur noch auf sich selbst lauschen wollte, und ungezählte, sorgsamst gepflegte Endkonsonanten seiner ohnehin märchenhaft mustergültigen Wortbehandlung, die sogar wie in der spanischen Romanze am offiziellen Schluß des Abends trotz höchster Artistik des Sprechens alles Zirkushafte dieses "Kontrabandisten" weit von sich weist, verhallen wohl gelegentlich wie auch der Ton im Nichts, sie lösen sich auf, aber sie tun damit gleichzeitig den Blick in eine Ferne und Tiefe auf, die wir als Geschenk, gleichsam als Miterben dieses Vermächtnisses erleben.

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Es ist unwahrscheinlich, wie wenig Mittel dieser Künstler im Äußeren dafür braucht, und wenn, dann nur in den Spanischen Liedern Geibels; überall vorher aber, wo er in den vielen Variationen wehmütiger, schmerzender, gestorbener Liebe wandelt und in denen er Heine, wie ich meinen möchte, weit über seine eigenen Erlebnisgrenzen der Dichtung hinaushebt, wird er zum Erzähler, zum testo, zum Zeugen einer Welt, in der viel menschliche Tragik sich aufschließt. Es ist fast wie ein Symbol, daß im vorletzten Lied des Heine-Zyklus aus op. 24 Schumann den Choral "Wer nur den lieben Gott läßt walten" zur Grundlage der Begleitung macht – Singen und Sterngläubigkeit, wie wir zitierten.

Was soll man Einzelnes schildern? Man merkt bald, daß Fischer-Dieskau mit einem sehr freizügig umgeht: den Zeitmaßen, die sich nach den nur ihm eigenen Gesetzen einer berückend schönen Hoheit der Deklamation fügen müssen. In ungezählten Dehnungen und Beschleunigungen, in dynamischem Drängen und unschlüssiger Verhaltenheit, in der weiten tonlichen Skala von einem fast erschütternd wirklich ausgetrocknetem Ton in einem secco-Rezitativ-Stil wie im "Reif in der Frühlingsnacht" über Volksliedhaftes bis zum Übermut entsteht schließlich ein neuer Schumann, der das hochromantisch-improvisatorische stilisiert – aber alle Worte bleiben ja doch nur Schatten des Erlebten, bei ihm und bei uns.

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Günther Weißenborn am Flügel, eine bekannte, aber immer wieder faszinierende Erscheinung, die sich’s genügen läßt, den Boden zu bereiten für die Klangwunder der Stimme, aber diesen Boden mit aller Akkuratesse, in die die übliche klavieristische Poetik Schumanns nur teilweise hineingelassen wird, zu pflegen und mit viel Mosaiksteinchen des Anschlags, der Akkordfärbungen, der Polyphonie auszustatten.

Natürlich entließ man im anhaltenden Jubel der Begeisterung den Künstler erst nach einem Bündel von Zugaben, obwohl er eigentlich seine Pflicht, seinen Schumann uns zu schenken, längst erfüllt hatte.

Otto Riemer

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