Zum Liederabend am 28. Oktober 1967 in Münster


Westfälische Nachrichten, Münster, 30. Oktober 1967

Liederabend Fischer-Dieskau

Kompositionen von Beethoven im zweiten Meisterkonzert

Schon die ausführliche Stellungnahme des großen Interpreten am Schluß des Programmheftes (Preis 2 DM) weist auf das Außergewöhnliche dieser Lieder-Folge hin: Schubert-, Brahms- oder Wolf-Abende sind durchaus an der Tagesordnung, einen reinen Beethoven-Liederabend kann sich wohl nur ein Fischer-Dieskau leisten. Tatsächlich ist es allein der exzeptionelle Sänger (mit Unterstützung seines großartigen Begleiters Günther Weißenborn), der mit der schönsten Stimme, die man sich nur denken kann, mit nicht zu überbietender Gesangstechnik und mit überzeugender Darstellungskraft diesem auch für den Hörer nicht leichten Programm zum Erfolg verhilft. Wenn es genug davon gäbe, könnte Fischer-Dieskau sogar einen ganzen Abend lang Gluck-Lieder singen.

Angesichts des ungewöhnlichen Programmes erscheint es statthaft, in der Einführung das Publikum mit der Frage zu beschäftigen, wer denn nun die "entfernte Geliebte" war, oder wie weit Beethovens Beziehungen zu dieser oder jener Person sich gestalteten. Von der Sache her ist diese Frage ganz und gar müßig, denn schließlich ist nicht Beethoven der Urheber der mäßigen Dichtung, sondern der 21jährige Brünner Medizinstudent Aloys Jeitteles. Beethoven, dem es nicht primär auf die literarische Qualität seiner Liedtexte ankam, hat den ihm geeignet erscheinenden Text vertont, diesen dadurch allerdings zur Unsterblichkeit erhoben. Wem aber das Kapitel "Beethoven und die Frauen" zum besseren Verständnis seiner Musik verhilft, der mag sich daran freuen, daß die Einführung eins der "größten Geheimnisse, die Beethoven nach seinem Tod, ja schon zu seinen Lebzeiten umgaben" wieder einmal endgültig – wie der ungenannte Verfasser glaubt – geklärt hat. Schade, daß es vor 150 Jahren in Teplitz und in Baden bei Wien noch keine Skandalblättchen gab, dann wüßten wir alles noch genauer.

Die näheren Umstände der Entstehung der Dichtung "In questa tomba oscura" beleuchten Beethovens Einstellung zum Liedtext. Dieses parodistisch gemeinte, extemporierte Ergebnis eines Gesellschaftsspiels wird von Beethoven erschütternd ernsthaft gedeutet, obwohl ihm der Ursprung des Textes vermutlich genauso bekannt war wie den übrigen 62 Komponisten (darunter Salieri, Zelter und Cherubini), die ihn auf Grund eines Preisausschreibens vertonten.

Dank seiner hohen Gesangskultur und seiner beherrschten Gestaltung entgeht Fischer-Dieskau jener Gefahr des Abgleitens in die Banalität, die Beethovens hochgespannte Rhetorik und sein moralisches Pathos (etwa in den Gellert-Liedern) fast ständig heraufbeschwören. Nur ein vollkommener Sänger kann sich so auf dem höchsten Gipfel der Erhabenheit bewegen. In dieser Situation würde schon das geringste technische Versagen ohne Zweifel zum Heiterkeitserfolg führen, aber ein solches Versagen gibt es bei diesem Sänger nicht. Der Liederkreis "An die ferne Geliebte" – wohl Höhepunkt der makellosen Darbietung – kann nicht schöner gesungen werden.

Reu.

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