Zum Liederabend am 20. Oktober 1967 in Hamburg


Hamburger Abendblatt, 21. Oktober 1967

Melancholie und Leidenschaft

Dietrich Fischer-Dieskaus Schumann-Liederabend

In die derzeit recht zäh anlaufende Hamburger Konzertsaison brach Dietrich Fischer-Dieskau herein wie eine belebende Elementargewalt. Bei seinem gestrigen Liederabend in der Musikhalle – dritte Station auf einer Deutschlandtournee durch 60 Städte zeigte er sich nicht nur stimmlich glänzend disponiert, sondern auch in verschwenderischer Geberlaune (sechs Zugaben!). Jedesmal bietet dieser intelligente Gestalter den Zuhörern Entdeckungen. In dem ausschließlich Robert Schumann gewidmeten Programm fügten sich zwei Zyklen nach Gedichten von Heine und Lieder nach Gedichten von Geibel (aus dem Spanischen) zu einem Kosmos der Romantik.

Man braucht die einzigartige Gesangskunst Fischer-Dieskaus nicht mehr zu analysieren, denn objektive Vergleiche sind durch das unmittelbare Erlebnis, das neue Maßstäbe setzt, überholt: In Modell-Interpretationen eines empfindsamen Lyrikers, dessen herrliche Unerbittlichkeit des inspirierten Ausdrucks die weite Skala zwischen Vitalität und darstellerisch geschliffener Diskretion umfaßt – ob es sich um Traumstimmungen wie in Trance, tragische Zwischentöne, grüblerische Melancholie oder den Ausbruch leidenschaftlicher Gefühle handelt. Die textnahe und zugleich musikalisch stichhaltige Wiedergabe erschließt dem Hörer die ganze Atmosphäre des Gedichts. Auch Günther Weißenborn unterlegte durch seine pianistische Kunst jedem Lied die entsprechende atmosphärische Spannung. Das Publikum in der bis zum Podium hinauf besetzten Musikhalle feierte den neuen Triumph des großartigen Sängers mit ausdauerndem Enthusiasmus.

S. T

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