Zum Liederabend am 1. September 1967 in Luzern


    

     Luzerner Tagblatt, Datum unbekannt   

Von der Schönheit des romantischen Liedes

Dietrich Fischer-Dieskau und Jörg Demus gestalteten Franz Schuberts "Winterreise"

     

Ein prallgefüllter Kunsthaussaal an einem Liederabend, das ist für Luzern wahrlich kein alltägliches Ereignis. Franz Schubert und Dietrich Fischer-Dieskau brachten dieses Wunder zuwege. Der sowohl in den Konzertsälen als auch auf den Opernbühnen der ganzen Welt gefeierte Bariton sang die "W i n t e r r e i s e" ohne Pause, assistiert vom kongenial mitgestaltenden Pianisten Jörg Demus. Die beiden Künstler haben sich zu einer Einheit der Ausdruckskraft gefunden, die schlechthin keine Wünsche mehr offen läßt.

Schubert hat sich wie kein anderer Musiker in das Herz der Welt im wörtlichen Sinne hineingesungen; keiner vor ihm und nach ihm hatte jene unheimlich seherische Gabe, den geheimsten Sinn eines Gedichtes in den Tönen des Liedes auszudrücken. Er gab sich rückhaltlos dem Augenblicke hin, gestaltete mit traumwandlerischer Einfühlung die Impression zur Expression um. Alles Menschliche, Leben und Tod, Liebe und Verschmähtsein, Freude und Traurigkeit, fand durch ihn zeitlosen Ausdruck. Als Schubert den "Zyklus schauriger Lieder" erstmals seinen Freunden vortrug, wurde er nicht verstanden. Er prophezeite jedoch: "Gerade diese Lieder werden euch später gefallen." Nicht zuletzt schuf unsere Epoche mit dem untergründigen Gefühl der Lebensangst neues Verständnis für die Nachtseiten der romantischen Weltschau. Der von der Todesgewißheit erfüllte Komponist lernte im Frühjahr 1828 Wilhelm Müllers Gedichtfolge "Winterreise" mit den vierundzwanzig Teilen kennen. Vier Jahre zuvor hatte er dessen Liednovelle "Die schöne Müllerin , durch seine unsterblichen Harmonien verklärt.

Dietrich Fischer-Dieskau wandte sich erst nach einem erfolgreich beendeten Universitätsstudium dem Gesang zu. In kurzer Zeit eignete er sich ein umfangreiches Konzert- und Theaterrepertoire an. Jedes Auftreten gestaltet sich zu einem Triumph. Vor dem einzigartigen Phänomen seiner in allen Lagen gleichmäßig und in bestechender Vollkommenheit durchgebildeten Stimme verstummt jegliche Kritik. Seine Schubertinterpretationen sind jedoch keineswegs unbestritten. Es ist schon behauptet worden, daß er die Textausdeutung zu weit treibe und so dem Liedcharakter nicht mehr restlos gerecht werde. Das angeblich übertriebene Martellato hemme unnötig den strömenden Melodienfluß. Von diesen Kreisen wird ihm Heinrich Rehkemper als blendendes Vorbild hingestellt. Abgesehen davon, daß auch der musikalische Geschmack stetem Wandel unterworfen ist - darin besteht ja gerade der Anreiz zu künstlerischer Nachschöpfung - besitzt jeder große Interpret das Recht zu eigener Aussage und Gestaltung. Wenn das nun so zwingend geschieht, wie im Liederabend der IMF, wenn Lyrik und Dramatik dermaßen verschwistern und die ausdrucksmäßige Breite mit dem Einsatz der vielfältigsten Stimmmittel erstrahlt, entsteht ein Gesamtkunstwerk, das ausgewogen in sich ruht und aus diesen Aspekten heraus zu beurteilen ist.

Jörg Dernus betreute den Klavierpart so sensibel, farbig, einfühlend und mit reichen Anschlagsnuancen, daß sich ein vollkommenes vokal-instrumentales Gleichgewicht einstellte. Wie unnachahmlich schön leuchtete im Liede "Gute Nacht" die Traumsphäre im Wechsel von Moll nach Dur auf. Im Einklang mit dem Klavier malte die Stimme das Drehen der "Wetterfahne". Als Einzelheit für eine Fülle durchdachter Lautmalereien möge stellvertretend die expressive Betonung der Worte "Wind" und "saugen" im späteren Lied "Wasserflut" angeführt sein. Wie schlicht und volksliedhaft, mit herrlich strömenden Legati wurden "Lindenbaum" und "Fühlingstraum" dargeboten. Im "Wirtshaus" wurde stärkster Ausdruck durch Einfachheit erzielt. Im leidenschaftlichsten Ausbruch oder in beklemmender Steigerung bewahrte die den Raum füllende Stimme ihren Wohlklang ("Auf dem Flusse", "Stürmischer Morgen", "Der Wegweiser"). Kontrastierend wirkte die fast nur beiläufig erzählend hingeworfene Wortfolge in der "Post", der eine köstliche pianistische Einleitung vorausging. Pianissimi von berückender Schönheit, zart hingehaucht, kennzeichnen Lieder wie "Der greise Kopf", "Die Nebensonnen" und "Der Leiermann", dessen alte Radleier ihre traurige kleine Melodie über einem immer gleichen Quintorgelpunkt erklingen läßt.

Trotz der nicht endenwollenden Ovationen konnten sich die beiden Künstler zu keiner Zugabe entschließen. Dies ist insofern begreiflich, weil jede Ergänzung zu dieser in sich geschlossenen Liederkette störend gewirkt hätte. Der für den Hörer harte Entschluß zeugte von künstlerischem Verantwortungsgefühl.

Isabelle Frei-Moos

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