Zum Liederabend am 4.  August 1967 in München    


     Süddeutsche Zeitung, 7. August 1967     

Münchner Festspiele

Fischer-Dieskaus Genie

Ein Schumann-Liederabend im Herkulessaal

   

Immer wieder möchte man enträtseln, was an diesem berühmtesten Liedersänger unserer Zeit so faszinierend sei. Ist es die mühelos geführte Stimme, die Leichtigkeit, mit der Fischer-Dieskau Register wechselt, Lagen verbindet, aufs Pianissimo ein Fortissimo folgen läßt? Dem widerspräche, daß er es oft gar nicht auf reinen Wohlklang abstellt, daß andere Künstler mit berückenderem Schmelz, frischerer Natürlichkeit singen. Fischer-Dieskau beschränkt sich beim Piano oft nur auf ein wohllautendes Parlando, sein Forte wiederum wirkt manchmal mehr dramatisch akzentuiert als tönend ausgesungen.

Oder erliegt man der außerordentlichen Intelligenz dieses Künstlers, der Lieder und Phrasen zu begreifen versteht wie wohl niemand sonst? Auch dürfte nur etwas sehr Wichtiges, aber nicht das Entscheidende getroffen sein. Denn oft genug opfert ja Fischer-Dieskau - zumal, seit er als Opernsänger Welterfolg hat - die Einheit eines Liedes oder einer Kantilene punktuellem Ausdruck, oft genug zerstört ein überdramatischer Akzent die melodische Kurve, waltet expressives und opernhaftes, dramatisch-mimisches Übermaß. Fischer-Dieskau spielt dann Affekte vor, statt sie darzustellen - man hat dann den reineren Kunstgenuß, wenn man nicht hinschaut. Also auch die disponierende Intelligenz scheint nicht (mehr) der eigentliche Grund dafür zu sein, wie dieser Künstler sein Publikum so ungeheuerlich zu fesseln versteht.

Selbst wenn er unbekannte Schumann-Lieder singt - verblüffend, mit welcher Konsequenz er, von ein paar Konzessionen abgesehen, den todsicheren "Reißern" ausweicht -, bleibt das Publikum vollkommen still und gebannt. Niemand hustet, wirft Programme auf den Boden, macht den üblichen Herkuleslärm.

Fischer-Dieskaus Genie (und Gefahr) liegt darin, daß er einfach nicht langweilig, nicht un-faszinierend phrasieren kann. Auch wenn er zu laut oder zu rasch oder zu affektiert vorträgt, "bannt" er dank seiner beispiellosen Präsenz. Unübliches oder auch Maniriertes wird und wirkt bei ihm nie langweilig. Seine Phrasierungskraft rechtfertigt - zumindest im jeweiligen Augenblick, womöglich auf Kosten des Ganzen - eigentlich alles, was er tut. Das Faszinosum wird zum Freibrief: Dieser Sänger spielt gern mit jedem extremen Punkt, bis zu dem er zu weit gehen kann.

Da macht er in der "Widmung" ein mächtiges, schwerlich noch sinnvolles Crescendo auf die zweite Silbe des verklärt, da flüstert er das Flüstern des "Nußbaums" und landet beim "Mägdlein" schon wieder in jähem Forte, da spielt er den "Contrabandiste" temperamentvoll und zum Jauchzen des Publikums vor. Aber während man noch grübelt, ob ein Künstler dieses Ranges dergleichen soll und braucht und "darf" (wer übrigens hat da schon zu erlauben und zu verbieten), bereitet Fischer-Dieskau mit Liedern, deren Lyrik schwer zu treffen sein mag, deren einsam spröder Ausdruck ihnen ein Grab in den beiden weniger benutzten Bänden der Friedländer-Ausgabe geschaffen hat, eine fesselnde Wiederauferstehung. Er findet und erfindet Ausdruckswelten reinster bewunderungswürdigster Magie. Aus der "Tragödie" Opus 64 löst er den zweiten Abschnitt ("Es fiel ein Reif") und wird zum Orpheus heimlichen, volksliedhaften Elends.

Die überwältigende Ritardando-Lyrik von "Dein Angesicht. so lieb und schön" erfährt man wie zum erstenmal: Auf engstem Raum variiert Fischer-Dieskau die Momente des Zögerns und des Schreckens so atemberaubend schön, daß man alle Festspielattraktionen dieses Sommers erlöst herschenken möchte für solch ein lyrisches Glück. Der relativ unbekannte "Liederkreis" Opus 24 nach Heine, Schumanns genial verhangene Byron-Komposition ("Aus den hebräischen Gesängen"), entlegene und meist unterschätzte, späte Lieder werden zum Geschenk. Schade, daß die Geibel-Gruppe am Schluß nicht das Niveau des Vorhergegangenen hatte.

Jörg Demus am Klavier, schön und ausdrucksvoll spielend, war doch ein Begleiter, nicht Partner. Fischer-Dieskau hat leider die Angewohnheit, sich am Anfang eines Liedes dem Begleiter so gespannt und fast gewalttätig zuzuwenden, daß der Pianist Nerven aus Stahl besitzen müßte, um sich da nicht einschüchtern zu lassen. Weil aber die Lieder wahrscheinlich Klavierlieder sind und Demus eine beträchtliche Anschlagskunst besitzt (ganz zu schweigen von seiner Fähigkeit, sich dem lyrischen Spürsinn Fischer-Dieskaus unauffällig anzugleichen ), sei diesem ohnehin niemals derben Pianisten doch geraten, den Flügel beim gemeinsamen Musizieren zu öffnen. Anderenfalls besteht die Gefahr, daß der Klavierton neutral und tot bleibt, wo er leise und innig-belebt klingen müßte. das Publikum war eine Gemeinde, dem Genius dieses Sängers völlig verfallen.

Joachim Kaiser

__________________________________

  

     Münchner Merkur, Datum unbekannt     

    

Fischer-Dieskaus Solo

     

Nur in Stichworten, was schon Hunderte Male gesagt und wohl noch nie bezweifelt wurde: der exzeptionelle Rang Dietrich Fischer-Dieskaus, die einzigartige Höhe seiner Kunst, die Souveränität der Stimmführung, die schier unglaubliche Skala der Nuancen. Er setzt das Publikum einem Niveau der Liedkunst aus, dem es in dieser einsamen Höhe überhaupt nur bei ihm begegnen kann.

Nach dem Besuch zahlreicher Festspielaufführungen in München und Salzburg stellt man fest, daß man nirgends so konzentriert in Anspruch genommen wurde wie bei seinem Liederabend (ausschließlich Schumann-Lieder, darunter "Liederkreis" nach Gedichten von Heinrich Heine). Man könnte das Paradoxon wagen, daß bei Fischer-Dieskau einzig Gefahr besteht, daß er zu gut singt. Das will heißen, daß er jede Textzeile, jedes Wort, ja einzelne Silben mit soviel Bedeutung auflädt, daß es schwerfällt, über der hinreißenden Einzelheit das formale Ganze wahrzunehmen. Dann werden einzelne Worte plötzlich übermäßig herausgehoben, "leuchtet" und "zittert" in der "Lotosblume", "geschähe" und "sähe" in "Melancholie". Oder es werden extreme dynamische Grade - vom fast tonlosen Flüstern bis zum machtvollen Forte - auf kleinstem Silbenraum durchmessen.

Deutung und Differenzierung haben hier einen Grad erreicht, wo das Lied selbst fast zu entschweben scheint, gewissermaßen Fußnoten oder ein Kommentar zum Lied gesungen werden. Zweifellos liegen Fischer-Dieskau, der ja nicht nur Liedersänger, sondern auch ein eminentes Bühnentemperament ist, dramatische Lieder glänzend.

Der pfiffige "Kontrabandiste", mit Bedacht als das Publikum enthusiasmierende Schlußnummer gewählt, strotzte nur so von gesanglichem und darstellerischem Witz. Niemand, der dies besser machen könnte. Und doch, wer erst sänge ihm die rein lyrischen, in sich selbst und einer einmal angeschlagenen Grundstimmung ruhenden und sich darin dennoch vielfältig brechenden (meistens traurigen) Lieder nach, so wie er diesmal "Dein Angesicht" und "Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht" sang.

Die ganze Fülle der Stimme, die vollkommenste Gesangskultur und die Klarheit der Empfindung - dieser Dreiklang ist für den Hörer beglückend gegenwärtig, ohne daß auch nur ein Glied auftrumpfend "eingesetzt" wäre. Solche Momente, und seien es nur zwei an einem Abend, machen Fischer-Dieskaus einmaligen Rang aus.

Jörg Demus begleitete am Klavier; Fischer-Dieskau wird genau wissen, warum er ihn wählt. Er ist ein Muster an Subtilität, Differenziertheit und ständiger Präsenz, hat federnden Rhythmus. versteht es, harmonische Entwicklungen klar und logisch zu formen, ohne sich je in den Vordergrund zu spielen.

Wilde Beifallsbezeigungen im bis auf den letzten Podiumsplatz besetzten Herkulessaal.

Helmut Schmidt-Garre


   

     Abendzeitung, München, 7. August 1967     

   

Münchner Festspiele 1967

Meister-Sänger

Münchner Festspiele. Liederabend Dietrich Fischer-Dieskau, Jörg Demus, Klavier, Lieder von Robert Schumann. Herkulessaal.

Ehe Dietrich Fischer-Dieskau an diesem Abend, der Robert Schumann gewidmet war, mit dem seltener gehörten "Liederkreis" nach Gedichten von Heinrich Heine begann, sang er drei der reifsten und schönsten Lieder Schumanns. Die "Widmung", aus der das Glück, Clara errungen zu haben, begeistert aufklingt, "Der Nußbaum", jene zarte Liederträumerei mit einer so bezaubernde Poesie verströmenden Musik, daß sie die biedermeierlichen Verse vollständig durchtränkt, und schließlich "Mein Herz ist schwer" aus den hebräischen Gesängen von Byron.

In erster Linie ist es Fischer-Dieskaus unvergleichliche Charakterisierungskunst, die seinen Liedgesang zum Ereignis seiner Epoche werden ließ. Es gibt sozusagen keinen Winkel eines Liedes, den er nicht genauestens kennt, keine Stimmung, keine Farbe, die er nicht erfaßt, keinen poetischen Tiefsinn, den er nicht ausgelotet hätte. Wenn er in der "Widmung" singt: "Mein Himmel du, darein ich schwebe", versteht er durch ein Hellerfärben der Stimme, durch Transparenz und Leichtigkeit eine Illusion von "Himmel" und "schweben" hervorzurufen, die tief berührt.

So erhielten auch die Lieder des Liederkreises, op. 24, in denen Schumann sich ab der "schönen Wiege meiner Leiden" ganz gefunden hatte, alles und mehr als man gewöhnt ist zu hören. Von fünf weiteren Liedern nach Heine beeindruckten besonders die ungemein kunstvoll gesungene "Lotosblume" und Schumanns letztes, geisterhaftes Lied "Mein Wagen rollet langsam". Die Krone der Geibel-Lieder waren die beiden ergreifenden Zigeunerliedchen aus dem Spanischen.

Fischer-Dieskau konnte sich erst durch einige Zugaben von der Umklammerung eines gebannten Publikums befreien. Jörg Demus, der fast unauffällig am Klavier saß, besitzt im hohen Maß die Kunst der dynamischen Diskretion und der musikalischen Nachdichtung.

Mingotti

zurück zur Übersicht 1967
zurück zur Übersicht Kalendarium