Zum Konzert am 16. April 1967 in Stuttgart


Stuttgarter Zeitung, 18. April 1967

Ohne Mona Lisa

Festkonzert des Staatsorchesters in der Stuttgarter Liederhalle

Wenn sich der Münchner Orchestergratulant, der auf der Jubiläumsfeier schwärmerisch das Wort ergriff, auch in romantischen Naturbildern verlor und den Klang der Traditionsorchester mit dem Rauschen vielhundertjähriger, dickstämmiger Eichenwälder verglich, so meinte er doch wohl etwas Richtiges: Geschichte trägt auch bei Orchestern noch allzumal ihre Früchte. Es war wohl auch ein Akt von Selbstverteidigung, wenn der Abgesandte des Bayerischen Staatsorchesters bei seinem Grußwort an die ihr 350jähriges Jubiläum feiernden Stuttgarter Kollegen etwas herablassend von den neugepflanzten Jungwäldern sprach und damit natürlich die perfektionierten Sinfonie-Orchester der Rundfunkanstalten meinte, die den alteingesessenen Orchestern ja nicht nur mit ihren öffentlichen Konzerten unliebsame Konkurrenz machen, sondern oft auch die besten Musiker "abwerben".

[...]

Die Stuttgarter sind mehr als ein gutes Provinzorchester, das haben sie an ihrem Geburtstag nachdrücklich beweisen können, sowohl in der Matinee als am Abend im Festkonzert. Wenn der stärkste Eindruck der am Morgen gespielte "Don Juan" von Richard Strauss blieb, so ist das die logische Folge der Tagesarbeit, des Operndienstes. Denn dank den Neigungen und besonderen Fähigkeiten von Ferdinand Leitner, der nun bereits zwanzig Jahre lang kontinuierlich die Geschicke des Orchesters lenkt, hat sich ein besonders prägnanter Stuttgarter Strauss-Stil herausgebildet, der sich jüngst erst wieder in der "Arabella"-Premiere dokumentierte.

[...]

So mußte man sich denn an zwei Meisterwerke halten, an Schuberts "Unvollendete" und Beethovens Fünfte Sinfonie – Kompositionen gewiß, die jeden Dirigenten, jedes Orchester (und ein jubilierendes erst recht) reizen und anspornen, die man aber doch an den Standard-Interpretationen reiner Konzertorchester zu messen gewohnt ist. Dennoch war man gerade an diesem Tage gewillt, das hingebungsvolle, ja begeisterte Musizieren frohgestimmt anzuerkennen, auch dort, wo es über Gediegenheit nicht weit hinausreichte und sich selbst mit der eigenen Strauss-Interpretation nicht vergleichen ließ. Dafür gab es zwischen den Sinfonien noch einiges Nicht-Alltägliches. Dietrich Fischer-Dieskau hätte man bei seiner Lust am Aufspüren unbekannter Schätze sicher dafür gewinnen können, etwas aus Jommelllis bedeutendsten Stuttgarter Opern zu singen, etwa aus dem "Fetonte" oder der "Olimpiade", für die Noverre 1761 die Choreographie schuf; nun sang er aber Mozart und Busoni. Von beiden Meistern wählte er Seltenheiten. Die Baßarie "Mentre ti lascio" hat Mozart 1787 in Wien für seinen Freund Gottfried von Jacquin komponiert; für Fischer-Dieskau liegt sie etwas zu tief, dennoch kostete er ihren belcantistischen Abschiedsschmerz mit feinsten Nuancen aus (ein Ritardando – auf die Worte "sol momento" – derart beseelt und doch stilvoll in reinstes Espressivo zu verwandeln, bringt neben ihm heute wohl kein zweiter Sänger zustande).

Die vier späten Goethe-Lieder von Ferruccio Busoni (zwischen 1919 und 1924 entstanden) erklangen in der Orchesterfassung gar als Uraufführung. Gewiß in der Hugo-Wolf-Nachfolge stehend, sind sie doch sehr individuelle Gebilde, klanglich sehr reizvoll, zum Teil virtuos instrumentiert, bemerkenswert vor allem in der thematischen Eigenständigkeit des Orchesterparts, demgegenüber sich der Gesangsstil relativ konservativ ausnimmt. An die stilleren Stücke "Lied des Unmuts" und "Schlechter Trost" vergeudete Dieskau nicht weniger stimmliche Variationskunst als an die beiden effektvolleren, das atmosphärisch besonders dichte "Zigeunerlied" und Mephistos "Flohlied", bei dem der Sänger und sein vorzüglicher Begleiter Leitner vom begeisterten Beifall zu einem Da capo inspiriert wurden. [...]

Wolfram Schwinger


  

     Stuttgarter Nachrichten, 18. April 1967     

  

Festkonzert mit Verlegenheiten

Zum 350jährigen Bestehen des Staatsorchesters

    

Fischer-Dieskau singen, Leitner Beethovens Fünfte nach langer Zeit wieder einmal spielen hören, und dies in bester Form des Orchesters – gewiß, das sind Genüsse, eines Festkonzertes zum Jubiläum des 350jährigen Württembergischen Staatsorchesters nicht unwürdig. Dennoch konnte der ganze Abend den Kritiker nicht recht befriedigen. Das Programm war nämlich durch verschiedene Umstände restringierter und verarmter Abglanz des seit langem angekündigten normalen 6. Abonnementskonzertes. Verarmt deshalb, weil der berühmte Gastbariton statt der angekündigten Harfner-Gesänge Hugo Wolfs eine Mozart-Arie sang und von den fünf Busoni-Liedern eines wegließ, und weil Mozarts Jupiter-Symphonie Schuberts h-Moll-Symphonie wich. Um wirklich dem festlich-repräsentativen Anlaß gerecht zu werden, hätte man sich nicht mit einer Vortragsfolge der Verlegenheiten begnügen sollen.

Wenn Nicolò Jommellis Wirken in Stuttgart den ersten Gipfel in der Geschichte des Staatsorchesters bedeutete, warum benützte man nicht den Anlaß, um den heute völlig vergessenen Meister am Ort seines einstigen Ruhmes mit einer Sinfonie oder einer Arie aus seinen vielen Opern zu ehren? Daß Dietrich Fischer-Dieskau zu prominent ist, um sich mit dem Einstudieren solch einer Abwegigkeit zu strapazieren, hätte ja nicht ein anderes Mitglied unserer Staatsoper von dieser Ehrenpflicht entbinden müssen. Und wo blieb das tönende Symbol dafür, daß sich beim Staatsorchester Tradition mit Gegenwart verbindet: die Komposition unserer Zeit? Gerade Ferdinand Leitner hatte seit Jahren mit vorbildlicher Konsequenz die Linie verfolgt, Altes mit Neuem zu mischen. Ausgerechnet im repräsentativen Festkonzert wich er davon ab und präsentierte gleich zwei orchestrale Standard-Bestseller, zur Fünften noch die Unvollendete.

Die sogenannte Uraufführung des Abends, die Orchesterfassung von vier Goethe-Liedern Ferruccio Busonis, kann man ja nicht gut zur Musik unserer Zeit rechnen. Abgesehen davon, daß der Deutschitaliener vor 101 Jahren geboren wurde und schon tot war, ehe noch Werke wie Bergs "Wozzeck" oder Strawinskys "Oedipus Rex" geschaffen waren (die nun auch schon wieder als klassisch gelten), stammen einige der Goethe-Vertonungen noch aus dem 19. Jahrhundert, und insgesamt verrät dieser Pseudo-Zyklus (um das Lied des Brander aus dem "Faust" vermindert) so gut wie nichts von der pionierhaften Kühnheit des Musikdenkers Busoni. Als Prophet der Moderne hörte er den "Drittelton an die Pforte pochen" und sah die Gleichsetzung von Dissonanz und Konsonanz voraus. Als Komponist blieb er viel pragmatischer.

Der Liedkomponist Busoni erweist sich als gescheiter denn begnadet. Das "Lied des Unmuts" ist mit seiner gedanklichen Polemik überhaupt kaum komponierbar. "Zigeunerlied" und "Schlechter Trost" huschen als Gruselette schwarzen Humors vorbei, das Floh-Lied des Mephistopheles "Es war einmal ein König" hat Mussorgsky ungleich drastischer, mit dem Gespür des geborenen Dramatikers vertont, bei Busoni hastet es motorisch, fast in Sekundenschnelle vorbei. Nur dank Fischer-Dieskaus einzigartiger Kunst plastisch beschwörenden Gesanges konnten die vier Lieder einigermaßen fesseln. Wie weit der Vermerk "Uraufführung der Orchesterfassung" wirklich stimmt, müßte mühsam überprüft werden; das Programmheft schweigt sich darüber aus, aber zumindest das "Zigeunerlied" scheint 1924 bereits mit Orchester gesungen worden zu sein. So oder so, man kann schon verstehen, warum sich bis fast ein Halbjahrhundert nach des Komponisten Tod niemand um die Wiedergabe riß.

Fischer-Dieskau sang vorher ein denkbar kontrastierendes Stück, Mozarts Konzertarie "Mentre ti lascio". Daß der größte Liedersänger unserer Zeit kein ebenso großer Belkant ist, wußte jeder, der ihn als Macbeth oder Don Giovanni auf der Bühne erlebte. Sein expressives Auskosten jeder Gefühlsnuance sucht die törichten Textreimereien vergeblich zu adeln, was Mozarts Vertonung andererseits gar nicht nötig hat; ihre autonome Schönheit an sich bedürfte eher einer instrumental "wortlosen" Wiedergabe durch eine runde, belkantistisch makellose (notfalls "dumme") Stimme – Fischer-Dieskaus Genialität liegt indessen ganz woanders.

Ferdinand Leitner bewährte sich beim Vokalteil als äußerst feinnerviger Begleiter und zugleich Mitgestalter. Seine Interpretation der 5. Symphonie Beethovens zeichnete sich durch große Sorgfalt in der Ausarbeitung jedweden instrumentalen Details aus, was zugleich für alle Gruppen des jubilierenden Staatsorchesters spricht. Leitners Reifestil drückt, fast repräsentativ für eine ganze, im Zeichen antiromantischer Sachlichkeit aufgewachsene Dirigentengeneration, das Bemühen um eine neue Klassizität der Werktreue, um eine Synthese des Intellektuellen und des Musikantischen aus. Schade, daß Leitner die Chance ausließ, dieses Festkonzert auch vom Programm her festlich-unvergeßlich zu machen. Der Beifall dementiert dies ja nicht – wann wäre die Fünfte denn nicht bejubelt worden?

Kurt Honolka

zurück zur Übersicht 1967
zurück zur Übersicht Kalendarium