Zum Liederabend am 25. Mai 1966 in Wien

Kurier, Wien, 27. Mai 1966

Gepflegte Wehmut

Im Musikverein: Dietrich Fischer-Dieskau und Demus für Schumann

Gut zehn Jahre lang überfordert der Liedinterpret Dietrich Fischer-Dieskau das Superlativ-Repertoire selbst der willigsten Kritiker, erschöpft die Einfallskraft derer, die stets nach neuen Epiteta omantia suchen und schließlich, nach Decsey, erkennen, daß das "Reindl ausgekratzt ist"... Zumal Schumanns Sensibilität und Wolfs differenzierte Ausdrucks- und Stimmungskunst kommen dem wissenden und bewußten Gestalter Dieskau, seinem artistischen Raffinement des Pointierens so sehr entgegen, daß jeder Versuch des Nacherzählens und Beschreibens vor der vollendeten Gabe des Augenblicks zum Scheitern verurteilt ist.

Solche sich dem Werk unterwerfende Meisterschaft machten zwei der Geibel-Vertonungen von Schumann für mich zum Höhepunkt des Abends: "O wie lieblich ist das Mädchen", so brillant und unaufdringlich vorgetragen, wie die scheinbar-naive, humorige Piece geformt ist, und "Der Kontrabandiste", ein ganz im Sinne der Schöpfer (Schumann und Geibel) herabgeschnurrtes Polterstückchen.

Doch ach, der heiteren Gesänge gab es wenige, und für die ernsten muß man das Herz auf der Zunge tragen. Dieskau gönnte sich manch echte Emotion, in der "Widmung" ebenso wie in der "Lotosblume", im leidenschaftlichen Bekenntnis wie im verhaltenen Schmerz. Die zurückgenommene Stimmung freilich führte oft auch zur zurückgenommenen Stimme, zum gewiß kunstvollen Sprechen in der notierten Tonhöhe mit fein gesponnenen Klangfäden als Verbindung. Und alle Überlegenheit des Darbietens und alle innere Spannung des Vortragenden konnten mitunter den Eindruck der Monotonie nicht verhindern. Die Demonstration der Interpretenherrlichkeit, zu sehr am Wort, zu wenig am Gesang orientiert, schuf Distance der Bewunderung, aber auch der Kühle. Wehmut, die schmerzen hätte sollen, wirkte gepflegt.

Das Publikum hatte an allen Schumann-Liedern seine Freude, feierte Dieskau überschwenglich und zugabenfordernd und sah es gerne, daß der Sänger seinen beispielhaft musizierenden Begleiter Jörg Demus sehr herzlich zur Verbeugungstour animierte.

Herbert Schneiber


Die Presse, Wien, 27. Mai 1966     

  

Ausschließlich Schumann

   

Dietrich Fischer-Dieskaus Stimmqualitäten zu rühmen hieße, längst Bekanntes wiederholen. Der prägnanteste Liedsänger Deutschlands ist ein Souverän seiner Stimme. Zeitweilig gab er sogar die so ergreifende Natürlichkeit des Vortrages als Preis für eine Nuancierungskunst, die jedes herkömmliche Maß übersteigt – wir warnten, als er jenes Stadium erreicht hatte, in dem seine Freude an vom Text her nicht mehr fundierten Zwischentönen, Schwellungen und Nuancen überentwickelt war und die Gefahr bestand, man werde an Fischer-Dieskau-Abenden vor lauter Tönen keine Lieder mehr hören.

Dieses Stadium scheint als eine kurzfristige Krisis überwunden. Oder zumindest für einige Zeit wieder gebannt. Schon seine Interpretation der "Schönen Magelone" war beinahe frei von Unnatürlichkeiten, seine Festwochengabe im Großen Musikvereinssaal, ein Abend mit Liedern von Robert Schumann, war noch reiner, klarer, einfacher und deshalb auch wertvoller.

Fischer-Dieskau, von Jörg Demus meisterhaft begleitet, band viermal fünf Lieder zu Einheiten, von denen die nach Gedichten von Heinrich Heine am schönsten gelang. Vor der Pause war die zweite Gruppe der so selten gehörten und schwierig zu gestaltenden zigeunerischen Lieder nach Gedichten von Geibel besonders erfolgreich – das Publikum amüsierte sich über Fischer-Dieskau als "Kontrabandiste" und schmunzelte vergnügt. Nach der Pause erschütterte, wie gesagt, zuerst der Heine-Zyklus en miniature und schloß der Sänger mit "Talismane" sehr würdig den offiziellen Teil des Abends, dem das traditionelle Zugabenkonzert folgte.

Franz Endler

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