Zum Liederabend am 14. Mai 1966 in Hannover


Hannoversche Allgemeine Zeitung, 16. Mai 1966

Triumph der Verinnerlichung

Dietrich Fischer-Dieskau sang Lieder von Beethoven

Das letzte der Pro Musica-Konzerte im nahezu vollbesetzten Kuppelsaal der Stadthalle gehörte Dietrich Fischer-Dieskau und war ausschließlich Liedern von Beethoven gewidmet. Der Sänger selbst hatte im Programmheft kluge "Randnotizen zum Thema Beethoven-Lied" beigesteuert, in denen er alle etwaigen Bedenken gegen eine vermeintliche Unergiebigkeit eines reinen Beethoven-Liederabends zerstreut. Niemand solle glauben, so schreibt er, es gehöre unverhältnismäßig viel Mut zu einem solchen Unternehmen. Aber der Gebrauch des Wortes "unverhältnismäßig" deutet doch darauf hin, daß Fischer-Dieskau in seiner Programmgestaltung eine Art Mission erblickte, in der es darauf ankam, "auch diese Seite des Großen (Beethoven) voll zum Klingen zu bringen".

Gegenüber vielen Liedern Schuberts mögen vielleicht Beethovens Lieder weniger stimmungsvoll erscheinen, weniger tief in die seelische Landschaft eines Gedichts eindringen, mögen manchmal die klassischen Linien der Melodik mehr mit instrumentalen als mit vokalen Vorstellungen verknüpft sein. Beethoven, dem Meister der sinfonischen Form, dem Vollender der Instrumentalsonate, nimmt man das Lied zu leicht nur als Nebenerscheinung seines kompositorischen Schaffens ab.

Aber alle solche Überlegungen wurden hinfällig an diesem Abend. Nicht nur die Zyklen der Gellert-Lieder und "An die ferne Geliebte" zeigten den kompositorischen Reichtum der Erfindungskraft, sondern auch die Einzellieder in ihrer Variabilität des Ausdrucks. Vieles allerdings kam zusammen, um diesen Abend unter einen besonderen Glücksstern zu stellen. Infolge seines intensiven Vorstudiums gelang es Dietrich Fischer-Dieskau, die melodischen Linien der Lieder durch Temporückungen und feinsinnig angewandte dynamische Stärkegrade als poetisierende Überhöhung der Texte darzustellen. Darin hatte ein Parlando ebenso berechtigten Platz wie der Rhythmus eines rezitierenden Vortrags, das (sparsame) Falsett ebenso wie das vollbrustige Volumen seiner Baritonstimme. Selbst die Interjektionen der textlichen Vorlagen gewannen in Fischer-Dieskaus Interpretationen Klang und Gewicht.

Ein anderer Glücksfall war Günther Weißenborn am Flügel, der es fertig brachte, gehaltene Gesangstöne durch Färbung der wechselnden Harmonien so zu stützen, daß auch sie vom Klavier her greifbare Gestalt annahmen. Fischer-Dieskaus Kunst, fließende Strophenübergänge gesanglich auszuschöpfen, übertrug Weißenborn so plastisch auf den Flügel, daß alle Lieder, erst recht aber die Zyklen sich zu nahtlos gegossenen Formen zusammenschlossen. Nicht zuletzt aber machte die Disziplin des Publikums, das die einzelnen Liedgruppen nicht durch unpassenden Beifall unterbrach, diesen Abend zu einem Erlebnis besonderer Art.

Auch mit den fünf Zugaben durchbrach Fischer-Dieskau nicht seine selbstgestellte Aufgabe, seine Stimme und musikalische Gestaltungskraft ausschließlich Beethoven zu widmen, den der Sänger in seinen eingangs erwähnten Notizen als "Befreier und Türöffner für das deutsche Kunstlied" beschreibt. Fischer-Dieskaus Mission wurde zu einem Triumph eines ganz und gar verinnerlichten Liederabends, der es nicht auf wohlfeilen Erfolg abgesehen hatte, aber gerade darum zu einem – so möchte man sagen – unwiederholbaren Ereignis wurde.

Helmut Wilhelm


Hannoversche Presse, 16. Mai 1966     

  

Singen will ich, Lieder singen

Dietrich Fischer-Dieskau im Kuppelsaal stürmisch gefeiert

    

Dieser Abend am Wochenende im Kuppelsaal war mehr, viel mehr, als nur ein voller Erfolg. Er war ein beifalldurchrauschtes Fest der Lieder.

Eine übergroße Zahl der Freunde des Kunstliedes und des Sängers Dietrich Fischer-Dieskau war zu diesem Fest gekommen. Im Rahmen des Konzertzyklus ‚pro musica’ hatte die Konzertdirektion Hans Ulrich Schmid diesen Beethoven-Liederabend mit dem berühmten Bariton veranstaltet.

Tröstlich festzustellen, daß nicht allein Modenamen des Chansons ein enthusiastisches Publikum um sich zu scharen vermögen. Wie groß ist doch auch die Gemeinde, die heute noch das klassische Kunstlied wohl zu schätzen weiß.

Gewiß wird nicht zuletzt die Beliebtheit des Künstlers dazu beigetragen haben, daß der Kuppelsaal die Zuhörerschar kaum zu fassen vermochte.

Dietrich Fischer-Dieskau hat für das Programmheft zu diesem Liederabend "Randnotizen zum Thema Beethoven-Lied" geschrieben. In dem nachfolgend zitierten Satz des Komponisten liegt gewiß auch der Schlüssel zur persönlichen Einstellung des Interpreten:

"Melodie ist das sinnliche Leben der Poesie. Wird nicht der geistige Inhalt eines Gedichtes zum sinnlichen Gefühl durch die Melodie?"

Durch die außergewöhnlich mitempfindende Begleitung Günther Weißenborns unterstützt, wurde der hohe Grad der Kultur in der Liedgestaltung Fischer-Dieskaus in all ihren Nuancen wahrnehmbar.

Nicht ohne völlig auf dramatische Akzentsetzung zu verzichten, war dennoch die Innigkeit der Melodie, das rein Poetische, das offenbar Bestimmende der Interpretation. Sehr deutlich vor allem in der bekenntnishaften Komposition "An die Hoffnung" und in "Wonne der Wehmut".

Die Schwerelosigkeit im Wechsel der Stimmlagen, der Zauber im Hinhauch des Pianissimo, die volltönende Kraft der tiefen Lage, die Formung der schwingenden Vokale, die Geschmeidigkeit, die Konsonanten im Klang auszukosten und schließlich auch die Bescheidenheit und doch zugleich die Sicherheit des Auftritts sind die rühmenswerten Eigenschaften dieses Sängers, der, blumenbeschenkt, von den Freunden in Hannover stürmisch gefeiert wurde.

E. G. Klein

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