Zum Liederabend am 10. Mai 1966 in Stuttgart


Stuttgarter  Zeitung, Datum unbekannt 

Fischer-Dieskaus Beethoven-Demonstration

Ein Liederabend in Stuttgart

Goethe lehnte Beethovens und Schuberts Vertonungen seiner Gedichte ab. Was beide nicht vermochten, sich seinen Versen unterzuordnen und den "Sington" seiner Gedichte zu erlauschen, gelang Reichardt und Zelter. In bezug auf Zelters Vertonung schrieb der Dichter: "Das Originale seiner Kompositionen ist, soviel ich beurteilen kann, niemals ein Einfall, sondern es ist eine radikale Reproduktion meiner poetischen Intentionen." Bei Beethoven und Schubert steht der musikalische Einfall im Vordergrund. Er tritt zur "poetischen Intention", er vertieft die Stimmung des Gedichts und wandelt es zu einem Gebilde der absoluten Musik. Schon Mozart hatte in Goethes "Veilchen" die Verse musikalisiert. Beethovens Goethe-Vertonungen aus seiner reifen Schaffensperiode sind Kunstlieder im Sinne Schuberts mit der geschlossenen Einheit von Wort und Ton, in der die Musik Formung und Gestaltung bestimmt.

Dietrich Fischer-Dieskau hat dem Liederkomponisten Beethoven einen ganzen Abend gewidmet. Es lag ihm am Herzen, nicht nur die sattsam bekannten Lieder zu wiederholen, sondern einen Überblick zu geben über den Reichtum der Formen und die Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten, die Beethoven im Klavierliede zu Gebote stehen. Das Verhältnis Beethovens zu den Texten hat sich in Form und Gestalt gewandelt. Fischer-Dieskau zeigte diesen Wandel von der Arie mit voraufgegangenem Rezitativ in Tiedges "An die Hoffnung" über die kleine Solokantate "Adelaide", über die geistlichen Arien der Gellert-Lieder bis zum Durchbruch des Kunstliedes in den Goethe-Liedern aus op. 75 und 83 und dem Liederkreis "An die ferne Geliebte".

Fischer-Dieskau, der seine Demonstration für den Liederkomponisten Beethoven wichtig genug hielt, um in Randbemerkungen zum Programm auf die Bedeutung der Lieder aufmerksam zu machen, verband in seinem Vortrag sein wissenschaftliches Interesse mit der Interpretation. So wurde in der "Adelaide" und in "An die Hoffnung" die Nähe der Bühne spürbar, und der Gebrauch dramatischer Kontraste in der Dynamik und der Profilierung von Wortakzenten trug zur Umdeutung der Liedstimmung in die bildhafte Anschauung bei.

Kontrastreich auch seine Deutung der Gellert-Lieder, die im Stil geistlicher Arien jeder einzelnen Nummer die ihr gegebene Form und ihren Affektgehalt statisch wahrten. In dem Liederkreis "An die ferne Geliebte" spannte Fischer-Dieskau den Bogen der Form zu einem geschlossenen Kreis. In eigenwilliger, den Sinngehalt der Worte musikalisch profilierender, den Aufbau der Teile zum Ganzen in kluger Regie durchgeführter Wiedergabe wurden Empfindungsgehalt und musikalische Tiefe gleichermaßen angerührt. Musterbeispiele der Beethovenschen Liedkunst gab Fischer-Dieskau in seiner Interpretation der "Wonne der Wehmut" und in dem unübertrefflichen Kabinettstück seiner Vortragskunst, in "Mephistos Flohlied", in dem sich der Opernsänger und der Liedersänger begegneten und ergänzten. Aufmerksamer und mit den Intentionen Fischer-Dieskaus tief vertrauter Interpret der Klavierparte war Günther Weissenborn.

Fischer-Dieskau und sein Begleiter am Flügel wurden mit Beifallsstürmen gefeiert, für die sich die Künstler mit etlichen Dreingaben bedankten.

Willy Fröhlich


Stuttgarter Nachrichten, 12. Mai 1966     

    

Klassische Liedkunst

Beethoven-Abend mit Dietrich Fischer-Dieskau

    

"Wer möchte den ganz besonderen Ton gelöster Innigkeit beim Beethoven der Lieder missen, der ihm mit solcher Vielfarbigkeit in anderen Werken selten zu Gebote stand? Es kommt darauf an, auch diese Seite des Großen voll zum Klingen zu bringen." Mit diesem Satz schloß Dietrich Fischer-Dieskau eine Betrachtung im Programmheft seines neuerlichen Stuttgarter Liederabends ab. Der Sänger suchte die Bedeutung Beethovens als eines in der Folgezeit häufig verkannten Liederkomponisten deutlich zu machen, gibt jedoch zu, daß sich Beethovens Anspruch an das Kunstlied erst in Schuberts Liedern erfüllt hätte.

Welchem Kunstlied-Interpreten mag es heute – außer Fischer-Dieskau – gelingen, ein reines Beethoven-Programm so zu gestalten, daß dem Hörer nicht bange oder gar langweilig wird? Sehen wir vom Zyklus "An die ferne Geliebte" op. 98, und im selben Schaffensabschnitt wie die Hammerklaviersonate op. 101 entstanden, ab, ferner von der berühmten "Adelaide" op. 46 und "Mephistos Flohlied" aus op. 75, so stellt sich Beethovens Liedschaffen nach wie vor häufig recht problematisch dar. Im Gellert-Zyklus, den Fischer-Dieskau neben den oben genannten Werken und einigen anderen ("An die Hoffnung", "Mailied", "Sehnsucht" u.a.) sang, spürt man stark die qualitative Diskrepanz zwischen Text und Musik. Fischer-Dieskaus puristisches Programm umfaßte nahezu alle Perioden Beethovenschen Liedschaffens, das sich kontinuierlich durch des Komponisten ganzes Leben zog. Und man bewunderte erneut die minuziöse Ausdruckspräzision, den schier unermeßlichen musikalischen Fundus des großen Sängers, die keimfreie Kultur seines Künstlertums.

Einen Abend lang Fischer-Dieskau nur mit Beethoven-Liedern zu hören heißt, höchste Schule subtiler Vortragskunst zu erleben. Kein Ton, keine dynamische Schwankung, die nicht aus dem Sinn des musikalischen Ganzen heraus peinlichst genau kalkuliert wäre. Und wenn sich die Gefahr des Manierierten gelegentlich abzeichnete, so lag dies sowohl an der Vollendung solchen Vortrags als auch an der reduzierten Emotion der Beethoven-Lieder. Fischer-Dieskau ist ein Interpret in des Wortes wahrstem Sinne, ein Künstler, der stets etwas distanziert wirkt, konzentriert wie ein Medium, ein Meister, der mit nichts als beneidenswertem Kunstverstand und herrlicher Stimme Inhalte wiedergibt. Mit Günther Weißenborn am Flügel, einem wunderbar zurückhaltend und gleichermaßen unsentimental musizierenden Begleiter, erlebte man eine klingende Dokumentation strenger klassischer Liedkunst, nobel und makellos. Die helle Begeisterung des Publikums im ausverkauften Beethovensaal wurde mit mehreren Zugaben belohnt.

Dsch

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