Zum Liederabend am 4. Mai 1966 in Wiesbaden


Wiesbadener Tagblatt, 6. Mai 1966

Internationale Maifestspiele Wiesbaden 1966

"Er singet so lieblich und singt es an mich"

Dietrich Fischer-Dieskaus Beethoven-Liederabend im Kurhaus

Der Bariton Dietrich Fischer-Dieskau kann singen, was er will, die Menschen kommen zu ihm, fühlen sich stets neu beglückt. Daß er nun deshalb nicht das Bequeme, das Übliche vorträgt, sondern stets auf das Besondere hinsteuert, macht die Bedeutung dieses eminenten Sängers eigentlich entscheidend aus. So war der Liederabend im seit langem ausverkauften Großen Kurhaussaal mehr als der musikalische Auftakt der Maifestspiele 1966, mehr als eine neue Begegnung mit dem wichtigsten und wesentlichsten Liedersänger unserer Zeit, sondern darüber hinaus auch eine Entdeckung des Liederkomponisten Beethoven. Für alle diese Komponenten des außergewöhnlichen Abends, für die Tatsache, wieder auch in Wiesbaden gesungen, so ergreifend und bezwingend vorgetragen und dazu noch neue Liedperspektiven erschlossen zu haben, dankten die Hörer mit sehr herzlichem und stürmischem Beifall. Die vielen Autogrammjäger wurden zuerst – wie stets – abgewiesen, doch einigen Glücklichen gelang es schließlich, nicht nur von Fischer-Dieskau, sondern auch von seiner Gattin, Ruth Leuwerik, einen Namenszug zu erwischen: ein Zeichen dafür, daß der Sänger in Wiesbaden besonders gut gestimmt war, obgleich er am Tage erst von München angereist und nach dem Konzert in ein Hotel nach Baden-Baden zurückfuhr, von wo aus er die nächsten Tage Liederabende gibt.

Im Programmheft seines Beethoven-Liederabends hat Fischer-Dieskau nicht nur auch mit Worten bewiesen, wie genau er zu studieren und nachzudenken pflegt, sondern zugleich nachgewiesen, wie unrecht das Musikleben tut, unterschlägt es den Liederkomponisten Beethoven. Gewiß, einige Stücke wie "Adelaide" oder "An die ferne Geliebte" sind gut bekannt und oft gesungen. Doch widmen sich wenige und fast niemand so klug und intensiv wie Fischer-Dieskau auch anderen der einhundert Klavierlieder Beethovens.

Nun kann sich freilich nur ein so ausdrucksmächtiger Interpret wie Fischer-Dieskau einen kompletten Beethoven-Abend erlauben, da er es versteht, auch die stilistische Seite anklingen zu lassen, die aufschlußreiche Spanne nämlich vom traditionellen Aspekt der Gesellschaftskunst des Liedwesens bei Haydn und Mozart (etwa in der zweiten Strophe von "An die Hoffnung" noch) bis hin zur Romantik von Schubert (der in "Wonne der Wehmut", so wie sie hier gesungen wurde, vorgeahnt ist) und zur Liedfarbe von Brahms (in Gellerts "Vom Tode" etwa). Auswahl und Zusammenstellung dieses Liederabends schenkten einen zusätzlichen geistigen Akzent, mit dem wiederum bestätigt wurde, daß der alte Stil des Liederabends keine Gültigkeit mehr hat, der neue, von Fischer-Dieskau geprägte Begriff eines Liederabends das Lied selbst zu retten vermag.

Unvergeßlich sofort der Beginn des Abends mit "In questa tomba oscura", die Weite der Ausdrucksfähigkeiten dieses Baritons eindringlich demonstrierend, das geschmeidige Pianissimo des Beginns und die Forte-Expressivität auf dem Höhepunkt des "und benetze weinend meine Asche nicht mit eitlem Schmerz" – wobei wir es mit einer Art Rezitation auf nur pro Takt einer Tonhöhe, einen Halbton voneinander getrennt, zu tun haben – was sich bei Fischer-Dieskau durch die ungewöhnliche Nuancierungsfähigkeit und dynamische wie ausdrucksmäßige Gestaltungskraft zu einer beklemmenden Vision steigert, ohne die Form- und Stilgrenzen des Liedes zu sprengen.

Diese einzigartige Stimme gehorcht Fischer-Dieskaus Ausdruckswillen heute so sehr, daß er alle Möglichkeiten der Formung zur Verfügung hat. Gelegentlich haben kritische Hörer gemeint, er lasse sich deshalb zu Überakzentuierungen verleiten. An diesem Abend fielen sie nicht mehr auf – nur ein einziges Mal noch, bei dem zu lang ausgerollten "l" bei "Gott ist die Lieb" im zweiten Gellert-Lied, könnte man von prononcierter Deklamation sprechen. Alles, aber auch alles Weitere ist heute so überzeugend, sowohl vom Kopf wie auch vom Herzen her, daß man sich eine vollkommenere Darstellung nicht mehr denken kann. Ein Maßstab wird geeicht, der anderen das Liedersingen fast verleiden könnte, da an solche Vollkommenheit nicht leicht heranzukommen ist.

Man könnte von vielen Details berichten, die diese Behauptung belegen würden. Greifen wir nur einige wenige heraus, so die Kunst der Phrasierung, der langen, zwingenden Bögen, der reichen Dynamik, der endlich genauen Befolgung der Notenangaben auch bei so beliebten und mißbrauchten Stücken wie "Die Ehre Gottes" mit dem Decrescendo und Ritardando bei "Ewigen Ehre", die machtvolle Steigerung zum Schluß dieses Liedes und der geheimnisvolle Frageton bei "wer trägt der Himmel unzählbare Sterne?"

Das schwärmerisch-verhaltene Klangbild der "fernen Geliebten", das Innige und Meditative mit dem Kontrast des pathosfeindlich schnellen und knappen Finales dieses Liedes, die Glückseligkeit des "möchte ich sein", unwahrscheinlich faszinierend suggeriert, all das und vieles mehr wäre zu erklären, obschon es sich schier unerklärlich ausnimmt. Hierzu gehört auch das unbeschreibliche piano-Singen, die Verbindung von Belcantissimo und Textdeutung, das Zurücknehmen der Stimme in ein trocken-gesprochenes "Trocknet nicht" – das am Schluß dieser "Wonne der Wehmut" in einer erschütternden Resignation bei scheinbarer Ausdruckslosigkeit mündet. Ferner: das stete "er singet so lieblich und singt es an mich", aus dem "Sehnsucht"-Lied zitiert und als Leitgedanke des unmittelbaren Kontakts zum Publikum, der nahtlosen Intensität des Vortrages denkbar.

Nicht weniger muß hingewiesen werden auf die minimalen Varianten der Ausdeutung bei kurz hervorgeholten Worten, stets in Verbindung mit der Musik, so bei "Neue Liebe" das "was bedränget" mit dem Akzent auf "was", die Erregung des Sekundschrittes "Herz, mein Herz" (wie schon in "Vom Tode" die Sekundreibungen bewußt ausgekostet waren), das Miteinander von Stimm-Crescendo und Wort-Profilierung bei "zerreißen" und "wider Willen" und dann im letzten, dem "Flohlied" der Schalk und der Witz, unnachahmlich serviert, am Schluß mit einem tüchtigen Schuß Sarkasmus, ja Sadismus vorgeführt.

Aus den vielen Beethoven-Zugaben sei nur herausgegriffen das "Ich liebe dich", mit einer Verinnerlichung und einem so unendlich schlichten Ausdruck gesungen, daß es einem den Atem zu verschlagen drohte. Ausschlaggebenden Anteil an der Genauigkeit und Größe des Abends hatte der glänzend disponierte Pianist Günther Weißenborn.

Beethoven hat seinem Liede "Resignation" eine Interpretations-Angabe vorangestellt, die Fischer-Dieskau sicher kennt, dennoch in seinem Aufsatz nicht zitierte, da es ja an uns ist, zu beurteilen. Und da müssen wir sagen, daß Fischer-Dieskau Beethovens Forderung, die man verallgemeinern darf, voll erfüllte und damit nicht nur Beethoven selbst entsprach, sondern auch dem Verlangen, das wir bei einem Liedvortrag heute zu stellen wohl berechtigt sind. Beethoven wünschte: "Mit Empfindung, jedoch entschlossen, wohl accentuiert und sprechend vorgetragen." Auf eine kurze Formel gebracht wäre hiermit auch gesagt, wie Dietrich Fischer-Dieskau singt.

Wolf-Eberhard v. Lewinski

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