Zum Konzert am 2. (?) April 1966 in Wien


Kurier, Wien, 4. April 1966

Prominentes Debüt

Musikverein: Bernstein philharmonisch

Das hatte den Wiener Musikfreunden noch gefehlt: ein philharmonisches Konzert mit Leonard Bernstein als Dirigenten und – Solisten. Letzten Samstag war es soweit. Von hartnäckigem Jubel empfangen, der den Erfolg im vorhinein quittierte, schritt Bernstein die Front der Musiker entlang zum Bösendorfer, setzte sich an ihn heran und – dirigierte. Den Beginn des Klavierkonzerts in B-Dur, K.V. 450.

Beim ersten Eintritt des Themas in den Klavierpart war zu erkennen, daß Bernstein ein wohlgeratener Pianist mit flexiblem Anschlag ist. Als Mozart-Musiker konnte er einen gewissen Hang zu romantisierendem Ausdruck und dementsprechenden Freiheiten im Wechsel der Tempi nicht verleugnen. Auch träufelte manch impressionistisches Parfüm in die gewohnte Mozart-Transparenz. Doch wurde insgesamt mit Geschmack und Laune musiziert, in bestem und spektakulärem Einvernehmen zwischen dem Orchester und dem dirigierenden Pianisten. Der Erfolg war groß.

Nach der Pause Mahlers Abschiedslied von der Welt, "Das Lied von der Erde", auf altchinesische Lyrik geschrieben, deren musikalische Kolorierung den Schmerz des Einsamen, Zerrissenen exotisch legiert, in wehmutvolle Verhaltenheit bettet, ohne die Erschütterung zu vermindern. Bernstein ließ sich vom Hektischen, Nervösen der Partitur ertragreich mitreißen, er war, eher einer Daumier-Vorlage gleichend, durchaus kein Showdirigent und förderte auch alle Poesie im Orchesterpart zu Gehör.

Nur dirigierte er ein wenig sehr gegen die Sänger: James Kings metallischer Tenor konnte sich weniger durchsetzen, als notwendig und möglich gewesen wäre. Dietrich Fischer-Dieskau formte seine Gesänge sehr bewußt und selbstbewußt und erzielte in mittleren Lagen auch den wünschenswerten baritonalen Klang. In den höheren Regionen wartet sein durchaus bruchreicher Bariton leider mit knabenhaft flachen, im Forte gepreßten Tönen auf, die den Eindruck der Musik Mahlers beträchtlich herabzusetzen vermögen.

Reicher Beifall auch am Ende.

-ibe-


  

     Die Welt, Datum unbekannt     

  

Vor der Kritik bestanden

Leonard Bernsteins Wiener Gastspiel mit Mozart und Mahler

   

Leonard Bernstein, bisher nur seltener Gast an der Donau, hat sich in Wien, ja beim österreichischen Musikpublikum ungewöhnlich erfolgreich durchgesetzt. Einige hunderttausend mögen die Übertragung des 6. Philharmonischen Abonnementkonzerts gehört haben, das er jetzt, zwei Wochen nach der "Falstaff"-Premiere der Staatsoper, gab. Es mußte zweimal wiederholt werden, und der Andrang zum Großen Musikvereinssaal war so stark, daß Polizeischutz angefordert werden mußte.

Bernstein hatte sich für sein Dirigenten- und Pianisten-Debut ein ebenso interessantes wie gefährliches Programm gewählt. Denn sowohl Mozart- als auch Mahler-Interpreten stehen hier unter der unerbittlichen Aufsicht der "eingeweihten" Mozartianer und Mahlerianer, neben denen die gefürchtete Wiener Musikkritik geradezu harmlos ist.

Bernstein also spielte im ersten Teil des Programms Mozarts Konzert für Klavier und Orchester B-Dur (K.V. 450), wobei er die Philharmoniker vom Flügel aus dirigierte. Er ist ein exzellenter Pianist mit unverwechselbarem, überaus weichem Anschlag, kein Donnerer und Blender, sondern eher ein Pianospieler. Dazu war im Mittelsatz, dem zauberhaften Andante, die schönste Gelegenheit, und hier fühlte er sich als Musiker sichtlich am wohlsten. Die raschen Ecksätze hatten weiche, zuweilen etwas verschwommene Konturen, die an Schubert oder Schumann denken ließen. Das Zusammenspiel mit den Philharmonikern war deshalb so erfreulich, weil es so gar nicht auf Autorität, Drill und Perfektion hin angelegt war. Hier musizierte ein Musiker unter Musikern.

Bei Mahlers "Lied von der Erde" änderte sich von den ersten Takten an das Klima. Hier verwandelte sich Bernstein in einen Besessenen, dem die exzessivsten und grellsten Klänge und die abruptesten Übergänge immer noch zu weich schienen. Wäre die Wirkung nicht so umwerfend, der Eindruck absoluter Ehrlichkeit nicht so überzeugend gewesen, man hätte glauben können, hier werde eine Show abgezogen. (Die Hörer an den Lautsprechern hörten einen Mahler, wie man ihn auch in Wien nicht oft geboten bekommt!).

Aber das Expressive, ja Überhitzte – es liegt ja ebenso in dieser Partitur wie der Übergang zum Lyrisch-Entrückten. Kaum jemand hat das so hellhörig zum Klingen gebracht und die Philharmoniker zu solcher Intensität anzufeuern vermocht. Das berühmte und versierte Orchester spielt unter allen Dirigenten ungefähr in der gleichen Art. Hier plötzlich klang es anders, herber, am ehesten den Leningradern unter Mrawinsky vergleichbar...

Die Solisten im "Lied von der Erde" waren James King, dessen metallisch-heldischer Tenor zuweilen unter den von Bernstein entfesselten Klangwogen verschwand, und Dietrich Fischer-Dieskau, der sich dank seiner Persönlichkeit – die mit der des Dirigenten erstaunlich harmonierte – durchzusetzen wußte. Nach dem siebenmaligen "Ewig!", mit dem das letzte Lied "Abschied", verklingt, gab es im Saal eine mindestens zehn Sekunden währende Stille. Und hierauf für alle Mitwirkenden einen Applaus, wie man ihn sogar in Wien selten hört.

Helmut A. Fiechtner

zurück zur Übersicht 1966
zurück zur Übersicht Kalendarium