Zum Liederabend am 27. Oktober 1965 in Düsseldorf

Rheinische Post, Düsseldorf, 28. Oktober 1965

Beethoven – doch ein Liederkomponist

Meisterkonzert mit Fischer-Dieskau in der Rheinhalle

Liederabende von Dietrich Fischer-Dieskau sind Ereignisse geworden. Wie in Sternstunden des Streichquartett-Spiels, erwacht eine Tradition zu blühender Aktualität, die man im Sensationstaumel unserer Zeit überflutet wähnte. Jeder Auftritt dieses Sängers, der schon 15 Jahre seinen Weltruhm behauptet und fortwährend erneuert, ist nie auf bequemen Erfolg ausgerichtet, sondern immer von beispielhafter Verpflichtung gegenüber der Musik erfüllt. Sein Liederabend, das zweite Meisterkonzert in der schon seit Wochen ausverkauften Rheinhalle, galt Ludwig van Beethoven, und ein seit Generationen bestehendes Vorurteil gegenüber dem Liedschaffen Beethovens brach für alle, die dabeigewesen sind, zusammen.

Als Cherubini in Wien den "Fidelio" hörte, glaubte er auf Grund der Behandlung der Singstimme, daß der Komponist sich bisher wenig mit Vokalmusik befaßt habe und schenkte ihm eine Gesangschule. Solche Begebenheit und meist aus dem Zusammenhang gerissene persönliche Äußerungen Beethovens, "ich schreibe nicht gerne Lieder" – sowie die Verweise auf ungünstige Lagen der Singstimme in der "Neunten" oder der "Missa", die vielleicht weniger auf ungenügender Erfahrung der Stimmbehandlung, als auf Gründen anderer Art beruhen, führten schon früh zu vorgefaßten Meinungen gegenüber Beethovenschem Liedschaffen: eine musikal-poetische Disziplin im Schatten seines symphonischen Werkes, in der er das Echo neapolitanischer Oper noch einmal auffängt und von den schlichten Weisen Zelters oder Reichardts inspiriert, den Liederfrühling der Romantik ankündigt.

Geschickt wählte Fischer-Dieskau die Arietta "In questa tomba oscura" zum Einsingen in den problematischen Raum. "An die Hoffnung" und die Gellert-Lieder op. 48 gewannen den männlichen Ernst, jenes klassische Pathos von erhabener Ruhe, das die geringste, auf populäre Wirkung gerichtete sentimentale Zerdehnung ausschloß. Schon im "Bußlied" zeigte sich die seltene musikalische "Zweieinheit" von Singstimme und herrlich auskomponiertem Klaviersatz, die in dem steten Fluß des Zyklus "An die ferne Geliebte" eine Überhöhung erfährt. Wie Fischer-Dieskau hier nahtlos Vers an Vers reiht, begleitet von dem geistverwandt mitfühlenden Günther Weißenborn, dessen Klavierspiel Kontrapunkte von erlesener Schönheit und Vollkommenheit setzt, gehört zu den großen, schlechthin klassischen Leistungen musikalischer Interpretationen. Es verbietet sich, bei diesem Liedgesang auf technische Einzelheiten zu verweisen. Die Elastizität der Phrasierung, die reiche Skala dynamischer Werte vom bewußten Forte bis zum äußersten Piano, wo jede Silbe verständlich bleibt, und die Geheimnisse der Agogik multiplizieren sich zur Summe einer Deutungskraft, deren Suggestionsvermögen bis in die entferntesten Winkel reicht.

Mit "Adelaide" und fünf Liedern nach Texten von Goethe schloß sich der Kreis, und wie in der Pastoral-Symphonie drücken diese gesungenen "Sonatensätze oder Bagatellen" nicht das Bild des Gesehenen, sondern die Wirkung des Wortes als reine Empfindung aus. Fischer-Dieskau erhebt eine fast vergessene Musik ins Überzeitliche.

Nicht endenwollender Dank faszinierter Hörer, der durch zwei Zugaben erwidert wurde.

hjm


 

Düsseldorfer Nachrichten, 28. Oktober 1965     

Nie war seine Stimme berückender

Beethoven-Abend Fischer-Dieskaus in der Rheinhalle

Die außergewöhnliche Volkstümlichkeit Fischer-Dieskaus ist eigentlich ein Rätsel. Seine Programme – wie dieser Beethovenabend – sind ohne Zugeständnis an das Bedürfnis nach Kontrast und Gefälligkeit, und was sein Singen angeht, so ist es doch bei aller Virtuosität und Schönheit ebenfalls streng geistig bestimmt. Fischer-Dieskaus Belcanto erzeugt keinen musikalischen Rausch, und der Beifall, der dem Sänger vom ausverkauften Hause gespendet wird, drückt deutlich mehr Respekt und Verehrung als leidenschaftliche Begeisterung aus. Wir finden es großartig, daß so ernst betriebene ernste Kunst solchen Widerhall findet und wünschten uns nur, daß das Gute in Düsseldorf besser gewürdigt würde, auch wenn es nicht mit dem Namen eines berühmten Interpreten verknüpft ist.

Fischer-Dieskaus Abneigung gegen den punktuellen Reiz des Einzelliedes läßt ihn auch bei Beethoven zwei Zyklen in den Mittelpunkt des Programms stellen. "An die ferne Geliebte", diese geniale Vorwegnahme aller romantischen Innigkeit, bekommt natürlich den Ehrenplatz, aber für "Die Ehre Gottes in der Natur" muß man bei Fischer-Dieskau die ganze Gruppe der manchmal sehr schlichten Lieder nach Gellert in Kauf nehmen.

Zu Beginn "In questa tomba" und "An die Hoffnung", bei denen der Sänger mit einigen unproportionierten Sforzati an eine abgestreifte Unart erinnert, am Schluß eine locker gebundene Gruppe von Goetheliedern und "Adelaide". Kehraus – vor den Zugaben – mit dem in fast instrumentaler Brillanz gesungenen "Flohlied".

Was soll man noch zum Ruhme dieses Künstlers sagen? Erstaunlich bleibt die Konzentration, mit der er sich auf das Wesen jedes Liedes umstellt, um Text und Musik ganz klar zu modellieren. Fasziniert wird man, wenn man beobachtet, wie der berühmte Mann, der sich doch gewiß Nachlässigkeiten erlauben könnte, jeden Vorschlag, jeden Triller mit äußerster Genauigkeit ausführt.

Schmelz und Adel der Stimme sind nie berückender gewesen. Glücklicherweise muß Fischer-Dieskau den Hauptteil des Programms im Piano oder mezza voce singen. In diesem Klangbereich ist er unvergleichlich, während seine großen crescendi und sein Forte den Charakter seines Timbres verlassen. Da taucht die Erinnerung an die Registerreinheit bei Schlusnus auf.

Günther Weißenborns Klavierbegleitung ist in ihrer Klangschönheit, in ihrer Anpassung und in ihrer Selbstbewußtheit dem Range des Solisten angemessen.

(2. Meisterkonzert.)

A. N.

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