Zum Konzert am 19. März 1965 in Köln

Kölner Rundschau, 22. März 1965

Boris Blacher ausgebuht

Vierter Kölner WDR-Abend mit "Musik der Zeit"

Der Westdeutsche Rundfunk hat mit seiner repräsentativen Konzertreihe "Musik der Zeit" eine bestimmte Linie eingeschlagen, ja, man kann sagen, er hat Farbe bekannt. Stellvertretend für diese Richtung waren durch Jahre hindurch die Namen Boulez, Nono und Stockhausen. Der vierte Abend mit Musik der Zeit in dieser Saison ließ nun zeitgenössische Komponisten zu Wort kommen, die tiefer in der Tradition wurzeln – und es gab lautstarke Ablehnung. Es mag möglicherweise eine abgekartete Sache junger Fanatiker gewesen sein, aber dem Violoncellokonzert von Boris Blacher, einem Kompositionsauftrag des WDR, wäre auch ohne diese kleine Verschwörung gegen den Berliner Komponisten kein Erfolg beschieden gewesen.

Während der Orchesterpart unter chronischer Blutarmut und Mattigkeit litt, wirkte der solistische Teil mit nervösen Kantilenen wie ein hochdosiertes Reizmittel. Siegfried Palm scheute keine Mittel und Wege, um mit brillanter Virtuosität die Schwächen des Werkes zu überspielen. Das Publikum dankte ihm seinen Einsatz mit jubelndem Beifall, der sich jedoch in Sekundenschnelle in ein Buhkonzert verwandelte, wenn der Komponist auf dem Podium erschien.

Freundlicher empfingen die Hörer im großen Sendesaal den jungen Berliner Komponisten Aribert Reimann und Luigi Dallapiccola, die beide Dietrich Fischer-Dieskau als Interpreten ihrer Werke gewannen. Der stimmgewaltige Sänger gab den in serieller Manier verfaßten Gesängen, dem "Totentanz" von Reimann und den "Gebeten" von Dallapiccola, großen Ausdrucksreichtum. Seine bestechende Interpretationskunst machte es leicht, darüber hinwegzuhören, daß sich der Sänger zuweilen größere Freiheiten nahm, als ein Komponist billigen möchte.

Den nachhaltigsten Eindruck hinterließ die fünfte Sinfonie von Hans Werner Henze, die wie Dallapiccolas "Preghiere" im Jahr 1962 auf fremdländischem Boden entstand. Während der Italiener in Amerika die Gedichte von Murilo Mendes vertonte, schrieb Henze seine "italienische Sinfonie", ein Stück, das in seiner Kraft und seinem Lebensmut von der Menschenwelt und Landschaft Roms beeinflußt ist und doch die typische Handschrift Henzes verrät.

Der junge Chefdirigent des WDR, Christoph von Dohnányi, hat sich für seinen ersten Musik-der-Zeit-Abend ein sehr gemäßigtes Programm zusammengestellt. Gleichwohl enthielt es genügend rhythmische und klangliche Finessen, und man mochte hinterher feststellen, daß Dohnányi mit gewissenhaftem Einsatz und exakter Schlagtechnik in Köln die Feuerprobe für einen Dirigenten neuer Musik blendend bestanden hat.

Marion Rothärmel

 

Generalanzeiger, Bonn, 22. März 1965     

   

Glanzstück für Cellisten

Blacher-Uraufführung im Kölner Funkhaus

   

Dietrich Fischer-Dieskau war die Attraktion und Boris Blachers neues Konzert für Violoncello und Orchester die Sensation beim vierten Konzert der Reihe "Musik der Zeit" dieser Tage im Kölner Funkhaus. Die Attraktion wurde stürmisch bestätigend akklamiert: Aribert Reimanns "Totentanz" für Bariton und Kammerorchester (1960) und Luigi Dallapiccolas "Preghiere" für Bariton und Kammerorchester (1962) sind Werke, die mit Stimmpracht und Interpretationsintelligenz eines Fischer-Dieskau wohl rechnen (rechnen müssen), die aber beide auf Grund einer lapidaren, aussparenden Klangintensität, mit der sie ihre religiös-metaphysische Textthematik um- und einkreisen, in jedem Fall zu den eindrucksvollsten Wortvertonungen im Bereich der neuesten Musik zu rechnen sind. Strenge Formen (Reimanns Texte und Musik lehnen sich "interpretierend" an die Tanzcharaktere der alten Suiten an; Dallapiccola bringt die mystischen Gebetstexte des brasilianischen Dichters Murilo Mendes in eine komplexe Reihenstruktur ein) und espressives Melos (bei Reimann herb-nordischer, tüftelnder, bei dem Italiener Dallapiccola mehr virtuos-kantabler Artung) verbinden sich zu einer Ausdruckskunst, die das Ingenieurhafte und bloß Kalkulierende vieler aktueller Musikprodukte weit hinter sich läßt.

Anders, zwiespältig war der Eindruck, den die Sensation des Abends provoziert: das Publikum spaltete sich in zwei lauthals divergierende Gruppen, deren eine, pfeifend und buh-rufend, sich offenbar an der glatten, virtuosen, hinreißend musikantischen, spiellustigen Laune der "Gebrauchsmusik" Blachers stieß. Dabei ist dieses neue Cello-Konzert (Kompositionsauftrag des WDR, vier Sätze, 23 Minuten lang) ganz in der kühlen, sachlichen, weder Tiefsinn noch Weltanschauung praktizierenden Manier des besten Blacher geschrieben; gestisch-tänzerische Musik im besten Sinne des Wortes, rhythmisch kräftig durchakzentuiert, raffiniert organisiert – und vor allem ein neues Glanz- und Paradestück für die Cellisten (die sich darauf stürzen werden). Siegfried Palm spielte es als erster, souverän alle Tricks nachvollziehend, trocken, federnd und mit exakt dem geforderten Maß an süßer Kantilenenseligkeit, für die die drei breit ausgefalteten Adagio-Teile Raum und Anlaß genug bieten. Ein "Gebrauchskonzert"? Ja, aber eines mit Witz und Geist und genau das, was die landläufige Konzertpraxis braucht. Zumal die Orchesterbegleitung sehr einfach und von jedem Provinzensemble zu bewältigen ist.

Kölns Rundfunkorchester, von Chefdirigent Christoph von Dohnányi präzis geleitet, brauchte sich jedenfalls nicht dabei zu verausgaben. Das hatte es zu Beginn bei der Kölner Erstaufführung von Henzes fünfter Sinfonie bereits getan (in Bonn war das Werk kürzlich schon vom SWF-Orchester gespielt worden!). Exakt in der Mitte zwischen Lyrik und dramatischer Eruption, zwischen ätherischem Klangspiel (des Adagios) und heidnischen Blecheskapaden (laut Henze das moderne Rom beschwörend) steuerte Dohnányi die geschlossene sinfonische Form an. Was ihm und dem Orchester begrenzt überzeugend gelang. Die Bläsermatadoren des Orchesters hatten einen guten Tag, die Streichergruppen hielten süß singenden Widerpart. Eine Präzisionsleistung ersten Ranges.

Hans G. Schürmann

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