Zum Liederabend am 25. Mai 1964 in Berlin

Die Welt, 26. Mai 1964

Beseelte Ausdrucksskala

Fischer-Dieskau sang Romanzen

Man bedauerte es, daß in der Philharmonie die Brahmssche Vertonung der Romanzen aus Tiecks "Wundersamer Liebesgeschichte der schönen Magelone und des Grafen Peter aus der Provence" nicht zusammen mit dem eigentlichen Text der Erzählung geboten wurde. Die Hinweise im Programmheft erlaubten eine Orientierung über die Stellung der einzelnen Lieder nur teilweise.

Andernfalls hätte der Hörer Fischer-Dieskaus Deutung der Gesänge noch leichter folgen können. Dieskaus Ausdrucksskala war so reich, wie man es gewohnt ist; sie war besonders vielfältig und eindrucksvoll im Visionären, im Schmerz, in zwielichtiger Stimmung. Selbst der Jubel bestimmter Lieder war nicht ungebrochen.

Im ersten Teil des Zyklus – bis zur Flucht des Liebespaares – ging Dieskau zuweilen bis hart an die Grenze, jenseits derer die melodische Linie zerbricht. Bewundernswert, wie er trotz kleinzügiger Interpretation übergreifende Bögen spannte.

Von der Romanze "Ruhe, Süßliebchen" an sang er ausgeglichener; in der Balance zwischen Rundung und Auflösung der Melodie lag äußerste Beseelung. Solche Differenzierung läßt sich nur mit Dieskaus Meisterschaft wagen, mit seiner seismographischen Beherrschung der Farben, der Linien. In Günther Weißenborn hatte er einen Partner von Niveau.

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Tagesspiegel, Berlin, Datum unbekannt     

   

Ritterliche Romantik

Dietrich Fischer-Dieskau sang in der Philharmonie den "Magelone-Zyklus" von Brahms nach Tieckschen Texten

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Dietrich Fischer-Dieskau sang den Magelone-Zyklus in der Philharmonie mit der halb intuitiven, halb bewußten Kunst des Vortrags, mit dem unfehlbaren, zwischen Musik und Dichtung hintastenden Feingefühl, das ihn vor allen anderen Sängern auszeichnet. Er schlug im Vorspruch den männlich-ritterlichen Ton an, der das Ganze aus der Sphäre der Sentimentalität heraushebt, differenzierte Schwärmerei, Hoffnung und Glückserfüllung der Liebesromanzen und gab den Gesängen der Trennung und Prüfung ergreifende, lebensgläubige Ausdruckskraft. Seine Kunst des Mezza-Voce-Gesangs zügelte die Affekte zum schönen, geregelten Spiel, von dem sich die großen stimmlichen Höhepunkte mit schicksalhafter Gewalt abhoben. In Günther Weißenborn hatte er einen Begleiter, der ihm an Akkuratesse des Musizierens gewachsen war und ihm jede lyrische Stimmung rein und diskret vom Klavier aus entgegenbrachte.

Das Problem des Sängers in der Arena ist nach diesem bedeutsamen Abend neu zu betrachten. Selbstverständlich bleibt die Diskrepranz von Lied-Intimität und Massen-Raum bestehen. Dietrich Fischer-Dieskau überwindet sie, indem er sie ignoriert; er läßt sich nicht zu opernhaftem Al fresco verführen, er verzichtet auf keine Finesse der Wirkung, und seine Stimme füllt auch im Pianissimo – die Zugabe "Feldeinsamkeit" macht es vollends deutlich – den Raum. Der Hörer aber, irgendwo fern vom Podium in hoher Runde sitzend, muß nicht nur auf die Illusion des Persönlich-Angesprochenseins, die der traditionelle Konzertsaal bot, sondern auch auf den direkten, gezielten Ton, auf die Nuance des Vortrags verzichten. Der Beurteiler muß sich oft mit einem Ungefähr begnügen und aus seiner Hörerfahrung das Klangbild ergänzen. Daß die Publikumswirkung dadurch nicht beeinträchtigt wurde, daß der Beifall enthusiastisch war, ist der Persönlichkeit des Sängers zu danken. Das Konzerterlebnis verändert sich; was es an Intensität verliert, gewinnt es an Weite, an Wirkung auf einen größeren, dankbar empfänglichen Kreis.

Oe.


    

     Telegraf, Berlin, 28. Mai 1964     

   

Fischer-Dieskau sang:

Die schöne Magelone

    

Der Liederabend von Dietrich Fischer-Dieskau in der Philharmonie mit Brahms’ Zyklus "Die schöne Magelone" war eines der Erlebnisse, die künstlerisch und menschlich in gleicher Weise beeindruckten. Fast ist man geneigt, dem menschlichen Erleben sogar noch den Vorzug zu geben, weil die Qualitäten des Künstlers als Liedersänger ohnehin bekannt sind. Dennoch wirkte sein hell gefärbter Bariton farblich und im Charakter ausgeglichener als in früheren Jahren. Die Höhe im Piano ist zwar weich und schlank, aber von einer angenehmen Herbheit, die sich dem Charakter der Brahms-Gesänge harmonisch anpaßte. Hat die Tiefe wenig dunklen Glanz, so ist sie von einer inneren Dramatik belebt, die sie großartig und expressiv klingen läßt. Die 15 Romanzen nach Ludwig Tieck enthalten eine Fülle von Ausdruckswerten, die Fischer-Dieskau überzeugend darstellte. Was aber am meisten beeindruckte, war die menschliche Reife, mit der der Künstler die von Günther Weißenborn hervorragend begleiteten Gesänge interpretierte. Den begeisterten Applaus beantworteten die Künstler mit Zugaben.

Bc

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