Zum Liederabend am 28. April 1964 in Heidelberg

Heidelberger Tageblatt, 30. April 1964 

Die wundersame Liebesgeschichte der schönen Magelone

Stürmisch gefeiert: Brahms-Liederabend Dietrich Fischer-Dieskaus/ Am Flügel: Günther Weißenborn

Ovationen, stürmischer und anhaltender Applaus empfingen Dietrich Fischer-Dieskau in der überfüllten, bis auf den letzten Stehplatz ausgenutzten Stadthalle. Weit über das ursprünglich kleine "Liederabendpublikum" und auch weit über das konventionelle Konzertpublikum hinaus hat er sich durch eine kaum je geahnte Steigerung künstlerischer Möglichkeiten einen breiten (und ganz heterogenen) Zuhörerkreis geschaffen, hat dem romantischen Lied in einer Zeit des Überdrusses am Romantischen, als es drohte, die Angelegenheit esoterischer Zirkel zu werden, eine neue starke Ausdruckskraft, neues Leben abgewonnen. Und soweit man auf diesem interpretatorischen Niveau überhaupt abzuwägen, zu differenzieren vermag, läßt sich sicherlich dieser Heidelberger Abend an Intensität und Schönheit nur noch dem Hugo-Wolf-Liederabend vergleichen, den Fischer-Dieskau vor einigen Jahren hier gab.

Verdienstvoll war allein schon die Wahl des Programms. Johannes Brahms’ fünfzehn Romanzen aus "Die schöne Magelone" von Ludwig Tieck, op. 33, gehören zweifellos zu den wertvollsten Brahmsschen Liedern, und trotzdem sind sie weitgehend unbekannt, wenigstens als Ganzes. Komponiert wurden sie in den Jahren 1861 bis 1869, angeregt wohl durch die Beschäftigung mit den großen Liederzyklen Beethovens, Schuberts und Schumanns, von denen noch manches hier lebt, ohne daß sie auch nur im mindesten epigonalen Charakter hätten. Wenn sie nicht so ins allgemeine Bewußtsein gedrungen sind, so liegt das gewiß zum Teil an ihrem schwierigen formalen Aufbau (z.B. findet sich nicht ein einfaches Strophenlied darunter).

Als literarische Vorlage dienten Brahms Gedichte, die sich eingestreut finden in der "Wundersamen Liebesgeschichte der schönen Magelone und des Grafen Peter aus der Provence", die Ludwig Tieck 1797 nach einem französischen Ritterroman aus dem 14. Jahrhundert schrieb. 1812 gab er sie dann in einer Sammlung von Märchen, Erzählungen, Schauspielen und Novellen unter dem Titel "Phantasus" heraus, und eben diese Sammlung befand sich auch in der Bibliothek des Komponisten.

Mehr noch als von der in vielen dieser Gedichte vorhandenen poetischen Schönheit der Romanzen mag Brahms von der Atmosphäre, dem "wundersamen" Geschehen angezogen worden sein: von der mittelalterlichen Geschichte des jungen Edelmanns, der das provencalische Schloß seines Vaters verläßt, in Neapel die Liebe der Prinzessin Magelone gewinnt, sie entführt, von ihr durch ein ungünstiges Schicksal getrennt, in die Gefangenschaft des Sultans gerät und sie schließlich – Lohn treuer Liebe – wiederfindet.

Die Lyrik Tiecks erfährt bei Brahms ihren großartig gesteigerten Ausdruck. Der Mannigfaltigkeit im Stofflichen entsprechen weitgespannte formale Bögen. Breit aufgeführte Szenen mit fast symphonisch angelegtem Klavierpart stehen neben zarten, schlichten Gesängen, Episches neben Dramatischem und Lyrischem, Herbes, Trotziges neben innigen Kantilenen – alles geführt in den Organismus einer umfassenden Einheit.

Kaum lassen sich die einzelnen Faktoren nennen, die auch dieses Werk in der reifen Interpretation Dietrich Fischer-Dieskaus zu einem so eindringlichen Erlebnis werden ließen. Es sind nicht allein seine Stimme und die Technik, die seinem Vortrag nahezu alles erlauben und ihn so ungemein mühelos erscheinen lassen. Hinzu kommen Intelligenz und soviel Wissen, Wissen um die Wirkung der Stimme in jeder Nuance, Wissen um die spezifische Eigenart der Kompositionen und dazu die ganz ausgeprägte Fähigkeit, sich in die Welt dieser Werke zu versenken. Vielleicht liegt hier ein Teil des Geheimnisses: daß er es vermag, die stärkste emotionale Beteiligung, die tiefste Empfindung – diesmal in ganz ungewöhnlichem Maße – ohne Bruch und in jedem Augenblick mit Ratio, Beherrschtheit, Kontrolle zu verbinden. So bleibt seine Stimme, die jede dynamische und farbliche Schattierung, ein Register vom zartesten piano, von der monotonen Deklamation über die "schöne Melodie" bis zum stärksten Espressivo, kennt, immer makelloser Wohlklang. – Es gab in diesem Konzert ganz besondere Höhepunkte, und sie lagen in den lyrischen Gesängen. Unerreicht die gelöste Ruhe in "Ruhe, Süßliebchen" oder die sich verströmende Klage des "Muß es eine Trennung geben", wenngleich man sich auch den anderen Stimmungen, etwa dem Düsteren, oder auch dem Keck-Verspielten ("Geliebter, wo zaudert") wie insgesamt dem Zauber dieses Abends schwerlich entziehen konnte.

Bedeutenden Anteil hat jedoch auch der Pianist Günther Weißenborn, der weit über die Rolle eines Begleiters hinaus den gewichtigen Klavierpart dieser Brahmsschen Lieder, die Vor-, Zwischen- und Nachspiele, mit überlegenem Vortrag und feinster Sensibilität mitgestaltete und eine untrennbare Einheit zwischen Sänger und Begleiter schuf.

Der Beifall am Ende dieses 7. Meisterkonzertes wollte kein Ende nehmen, und er wurde mit vier Zugaben, ebenfalls Brahms-Liedern, belohnt: "Feldeinsamkeit", "Blauer Himmel, blaue Wogen", "Warum denn" und "Wie bist du meine Königin" – auch sie erlesen gleichermaßen als Werke wie in dieser Interpretation.

Monika Möllering

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