Zum Liederabend am 15. April 1964 in Hamburg

Hamburger Abendblatt, 17. April 1964  

Von Verzweiflung und Glück

Dietrich Fischer-Dieskau sang Brahms’ Magelonen-Zyklus

Nur selten hört man den Liederzyklus "Die schöne Magelone" von Johannes Brahms, den der Komponist vor 95 Jahren in Hamburg mit Julius Stockhausen uraufführte. Diese fünfzehn Romanzen von Ludwig Tieck (Gedichteinlagen in seiner Bearbeitung eines französischen Ritterromans aus dem 14. Jahrhundert) stellen aneinandergereiht durchaus keine zusammenhängende Erzählung dar. Deshalb wird die eigentliche Handlung nur durch Zwischentexte verständlich, die dankenswerterweise dem Programm beigefügt waren.

Doch ein so großartiger Sänger und Gestalter wie Dietrich Fischer-Dieskau (mit Günther Weißenborn als bewährtem Partner am Flügel) nimmt dem Zuhörer das Herumrätseln an der romantisch-abenteuerlichen Geschichte der Prinzessin Magelone und des Grafen Peter ab. Er verwandelte dieses schwärmerische Zwiegespräch der Liebenden durch verhaltene und doch mächtige Intensität differenzierter Mitteilung in einen spannungsvollen Gefühls- und Gedankenaustausch. Das ist kein Märchen aus uralten Zeiten mehr, sondern erfülltes Stimmungserlebnis, das Nerv, Herz und Geist anspricht. Jubelnde Verzückung, todestraurige Verzweiflung, bangendes Sehnen, Glück des Wiederfindens – eingeschmolzen in Vers und Melodie, zwingend interpretiert – man braucht die einzigartige gestalterische Kunst Fischer-Dieskaus nicht mehr zu analysieren. Der Eindruck war überwältigend.

S. T.

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