Zum Konzert am 13. April 1964 in Hannover

Hannoversche Allgemeine Zeitung, 15. April 1964  

Mahlers Abschiedslied

Keilberth, Fischer-Dieskau und die "Bamberger" im Kuppelsaal

Gustav Mahlers Sinfonie "Das Lied von der Erde", die er 1908 als 48jähriger, drei Jahre vor seinem Tod, auf altchinesische Gedichte nach Bethges "Chinesischer Flöte" komponierte, ist in Hannover seit langem nicht mehr aufgeführt worden. [...] Im Gastspiel Joseph Keilberths mit den Bamberger Sinfonikern im Kuppelsaal – zu dem dreieinhalbtausend Menschen geströmt waren – erklang dieses Werk, dessen sinfonisch-poetische Überzeugungskraft der Zeit standgehalten hat und das zu den am wenigsten umstrittenen Schöpfungen des großen Dirigenten-Komponisten Mahler gehört, in einer erfüllten, nachhaltige Eindrücke vermittelnden Aufführung. Die Altpartie wurde diesmal mit einer Baritonstimme besetzt, und da Dietrich Fischer-Dieskau diese Partie übernommen hatte, war der Wiedergabe ein einzigartiger künstlerischer Akzent und dem ganzen Abend der entscheidende Anziehungspunkt gesichert.

Unvergeßlich der Ausklang des Werkes an diesem Abend: "Die liebe Erde blüht auf im Lenz... und ewig blauen licht die Fernen, ewig, ewig." Diesen klanglich so betörend verlöschenden Liebesgruß an die Erde aus dem Munde dieses begnadeten Sängers zu hören, wurde zu einem musikalischen Erlebnis, das wohl kein Zuhörer vergessen wird. Im zarten Naturbild des "Abschied" betitelten Finales dieses sechssätzigen sinfonischen Liederzyklus unterstrich Fischer-Dieskau mit äußerst verfeinerter, monologisierender Stimmführung die ergreifende Seelenstimmung des Einsamen. Herrlicher, versöhnlicher, transzendenter, als es dem Künstler gelang, ist dieser Ausklang des Werkes nicht zu gestalten, in dem sich der von Tragik gezeichnete Gustav Mahler sein Abschiedslied von der Welt gesungen hat. Aber auch in den anderen Sätzen, die Fischer-Dieskau sang, im weltschmerzlichen Monolog vom "Einsamen im Herbst" und in der stillvergnügten Liedfreude "Von der Schönheit" verdeckten nie das fernöstliche Kolorit, das reich und kunstvoll entfaltete Instrumentarium die wundervoll verinnerlichte Intensität seiner Gestaltung. Es war ein reiner Genuß, ihm zuzuhören und dabei zu bewundern, wie hellhörig sich Dirigent und Orchester der suggestiven, souveränen Stimmführung des Berliner Baritons anpaßten.

Etwas anders war es beim Tenorsolisten. Ein so erfolgreicher Sänger Fritz Wunderlich auf der Opernbühne ist, in diesem sinfonischen Liederzyklus vermochte sich der Klang seiner an sich sehr sicher geführten, hell und geschmeidig klingenden Stimme in der Weite des Kuppelsaales nicht so eindringlich durchzusetzen, wie man es bei Fischer-Dieskau bewunderte. Im einleitenden "Trinklied" unterstrich Keilberth mit den "Bambergern" Mahlers Instrumentarium so orgiastisch lodernd, daß die Vokalstimme zuweilen machtlos dem Ansturm des orchestralen Riesenapparates gegenüberstehen mußte. Weitaus besser und stilsicherer kam die friedliche Heiterkeit des bezaubernden "porzellanenen" Pastellbildes "Von der Jugend" zur Geltung. Hier verstand es Wunderlich glänzend, die Melodik rhythmisch-plastisch auszukosten. Hier hatte auch Keilberth eine durchsichtigere klangliche Feile angelegt als im ersten Tenorlied. Mag es Wunderlich auch nachher im übermütigen Zecherglück des "Trunkenen im Frühling" manchmal schwer gehabt haben, sich gegenüber der berauschenden Instrumentation zu behaupten, so sprach dieses Stück doch in vielen seiner Feinheiten, vor allem in der pastoralen Poesie des vokalen und instrumentalen Kräftespiels unmittelbar an.

Als Einleitung zu dem überwältigenden Mahlerwerk spielte Keilberth mit den "Bambergern" Beethovens "Achte". Sie war rhythmisch vital entfaltet, ihre frohe Laune aber geriet doch etwas neutraler, schematischer, auch derber, als man sie im allgemeinen zu hören gewohnt ist. Schade, daß der Überschwang der heiteren Gefühle der vier Sätze nicht gelöst und elastisch genug zum Vorschein kam. Der Schwerpunkt des Abends lag um so mehr bei Mahlers "Lied von der Erde" in einer inspirierten, würdigen Wiedergabe, die nachhaltige Begeisterung auslösen mußte.

Erich Limmert

zurück zur Übersicht 1964
zurück zur Übersicht Kalendarium