Zum Konzert am 6. April 1964 in Stuttgart

Stuttgarter Zeitung, 8. April 1964   

Mahlers Lied von der Erde

Fritz Wunderlich und Dietrich Fischer-Dieskau in Stuttgart

Der achte Abend der Veranstaltungsreihe "Meisterkonzerte" stand im Zeichen Gustav Mahlers. Die Bamberger Symphoniker unter Joseph Keilberth setzten sich für Mahlers "Lied von der Erde" ein, ein Werk, das seit vielen Jahren in Stuttgart nicht mehr zu hören war. Die erneute Bekanntschaft mit Mahlers Liedsymphonie ließ die typischen Merkmale des Spätstils, die Kongruenz von dichterisch-weltanschaulicher Substanz und deren formaler Ausgestaltung, die Verdichtung der Expression und die kammermusikalische Durchleuchtung des Orchesterklanges deutlich werden. Die Wiedergabe des Werkes steht und fällt mit der Wahl der Solisten. In Fritz Wunderlich und Dietrich Fischer-Dieskau waren die Interpreten gefunden worden, die Zeitbedingtes wie allgemein Gültiges erfühlten und in technisch makelloser und musikalisch-stimmlich unübertrefflicher Wiedergabe dem Hörer vermittelten.

Fritz Wunderlich schlug schon im ersten Lied die Grundtendenz des Werkes an. "Der Jammer der Erde" wurde im scharf profilierten Kontrast von lyrischem Erguß und dämonisch-phantastischer Dramatik zum Symbol einer ausgehenden Kulturepoche. Wundervoll verhalten sang Wunderlich die Idylle "Von der Jugend". Mit dem vollen Einsatz einer breiten Ausdrucksskala und eines mannigfaltig differenzierten Tenorklanges gab Wunderlich das Lied "Der Trunkene im Frühling" wieder.

Die wichtigsten Lieder seines Zyklus hat Mahler einer Altstimme anvertraut. Sie von einem Bariton singen zu lassen, ist nur möglich, wenn dieser Künstler Dietrich Fischer-Dieskau heißt. In seiner Interpretation wurden die aus der Transposition in die tiefere Oktave sich ergebende klangliche Verschiebung sowie die eigentliche Verfremdung des seelisch-geistigen Charakters der Altlieder in der Baritonsphäre so vollendet ausgeglichen, daß schon dieses Wunder einer vollkommenen musikalischen und geistigen Assimilation die Umbesetzung gerechtfertigt hätte.

Erstaunlich war die Übereinstimmung der stimmlichen Variabilität mit der trostlosen Ausweglosigkeit der seelischen Landschaft, erschütternd Fischer-Dieskaus Sichversenken in Mahlers Weltschmerz. Höhepunkt der ergreifenden Wiedergabe war der Schluß des Werkes in der Verklärung von Natur und Mensch, in der traumhaft sicheren Erfühlung einer Naturmystik, die in allen Werken Mahlers ihren Ausdruck findet, aber im "Lied von der Erde" versöhnende Erfüllung eines symphonischen Lebenswerks wird.

Die Bamberger Symphoniker, die mit einer mehr exakten und rhythmisch betonten als spannungsreichen Darstellung der achten Symphonie Beethovens den Abend eröffnet hatten, konnten in Mahlers Werk besser gefallen. Unter Joseph Keilberths Leitung gelangen kammermusikalisch feinsinnig angelegte Partien, die nur manchmal durch unzuverlässige Intonation der Holzbläsergruppen getrübt schienen. Die beiden hervorragenden Solisten, Joseph Keilberth und sein Orchester wurden mit außerordentlichem, langanhaltendem Beifall bedacht.

Wf


Stuttgarter Nachrichten, 8. April 1964     

    

"Lange Blicke der Sehnsucht"

Bamberger Symphoniker unter Keilberth mit Wunderlich und Fischer-Dieskau

     

Das Programm des achten Meisterkonzerts mit den Bamberger Symphonikern unter der Leitung von Joseph Keilberth enthielt eine Kostbarkeit sinfonischer Musik: Gustav Mahlers spätes, 1908 vollendetes "Lied von der Erde". Dieser Symphonie für Tenorsolo, Baritonsolo und Orchester liegen sechs chinesische Gedichte zugrunde, die dem Werk mehr liehen, als lediglich asiatisches Kolorit. Mahlers Werk scheint eher fermentiert vom Geist der Dichtungen, wenn auch die Musik selbst mit diskreten Andeutungen des asiatischen Klimas der Gedichte sich begnügt. Die Sätze sind wie die "langen Blicke der Sehnsucht", von denen das Gedicht "Von der Schönheit" spricht. Zwischen der Polarität des "O Schönheit! O ewigen Liebes - Lebens - trunkene Welt!" und dem "Du mein Freund, mir war auf dieser Welt das Glück nicht hold!", Zeilen des letzten Satzes, verzehrt die Musik ihre Kräfte, an dieser Polarität bricht sich ihre sinnliche Gewalt.

Ganz aus diesem Geist – so schien es – lebte die Interpretation der Bariton-Sätze, die Dietrich Fischer-Dieskau sang. Im Gedicht "Der Einsame im Herbst", dann "Von der Schönheit", schließlich in "Der Abschied" dominierte jener Ton sehnsüchtiger Klage, der seiner Stimme so natürlich eigen ist. In diesen Grundton hineingewoben freilich der ganze Reichtum seiner Nuancierungskunst. Beiläufig Erzählendes wie in "Junge Mädchen pflücken Blumen" oder starke dramatische Akzente setzend, im Mittelteil des Satzes "Von der Schönheit", schließlich aber auch der Ausdruck sinnlichen Entzückens im "Abschied". Fritz Wunderlich, der die Tenor-Sätze sang, hatte es schwer, sich neben solcher souveränen Kunst des Ausdrucks zu behaupten. Entfaltete Fischer-Dieskau von einer zentralen Empfindung, einem Schlüsselwort her den Ausdrucksreichtum des Satzes, so schien Wunderlich umgekehrt den jeweiligen Charakter einer Zeile, eines Verses ad hoc zu gestalten. Das gab seinen durchaus intensiv gesungenen Interpretationen eine gewisse Buntheit, "Zerstreutheit", die den Grundton der Gesänge eher verdeutlichte, als ihn verströmen ließ.

Beide Sänger aber hatten in Keilberth und seinen Bamberger Symphonikern vorzügliche Helfer. Mit wunderbarer Intensität, einem Atem, der liebevoll das zarteste Detail ausspann, um im nächsten Augenblick bereits wieder der prallen, sinnlichen Fülle der Mahlerschen Sinfonik gerecht zu werden, setzte sich Keilberth ganz ins Zentrum des Werks. So gelang den Bambergern eine hinreißend schöne, ganz sich verströmende Interpretation des "Liedes von der Erde".

[...] Sehr herzlicher Applaus für die Solisten, für die Bamberger und ihren großen Dirigenten in der ausverkauften Liederhalle.

w. b.

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