Zum Konzert am 4. April 1964 in Nürnberg

Nürnberger Nachrichten, 6. April 1964

Werke von Beethoven und Mahler in der Nürnberger Meistersingerhalle

Machtvolles Lied von der Erde

Bamberger Symphoniker unter Keilberth – Fritz Wunderlich und Fischer-Dieskau

An Gustav Mahler, dem letzten großen österreichischen Symphoniker der Romantik, hat das deutsche Musikleben viel wieder gut zu machen. Ihn traf das Verdikt des Jahres 1933 nicht – wie etwa Mendelssohn – in einer Zeit der allgemeinen Anerkennung, sondern gerade in dem Augenblick, als seine Symphonien auf die natürlichste Weise in den Konzertsälen heimisch zu werden begannen: nämlich durch die Gewöhnung des Publikums.

Daß diese Gewöhnung heute so geringe Fortschritte macht, ist allerdings nicht nur Schuld des Publikums. Mahlers Musik ist auch heute noch, mehr als fünfzig Jahre nach dem frühen Tod des Komponisten, in mancher Weise problematisch. Sie besitzt viel von Bruckners Monumentalität, aber nichts von seiner gläubigen Unbedingtheit; sie hat manches von der eingängigen Melodik des Volksliedes angenommen, aber es fehlt ihr dessen schlichte Natürlichkeit; prächtig steht ihr das Gewand der spätromantischen Instrumentationskunst, aber dahinter fehlt die geschlossene Kraft, der elanvolle Aufschwung der wirklichen Romantiker des neunzehnten und auch des zwanzigsten Jahrhunderts.

In der Art, wie ein Dirigent diese Gespaltenheit überbrückt – nicht sie kaschiert! – zeigt sich seine eigentliche Qualität. Allein schon in dieser Hinsicht war das achte Meisterkonzert in der Meistersingerhalle ein großes Erlebnis. Professor Joseph Keilberth besitzt den weiten Atem, der nötig ist, um die Fülle von Mahlers oft aphoristischen Gedanken organisch zu binden, und er hat in seinen Bamberger Symphonikern einen Klangkörper, der solche Absichten verwirklichen kann. So kam eine höchst geschlossene Wiedergabe von Mahlers "Lied von der Erde" zustande, und wenn sich das Orchester auch hier über weite Strecken auf illustrative Aufgaben zu beschränken hat, so gingen doch sehr starke Impulse nicht nur malerischer, sondern auch formender Art von diesem Orchester aus.

Die beiden Solisten waren den in der dynamischen Entfaltung stets disziplinierten, in der Klangentwicklung höchst kultivierten Symphonikern in jeder Phase ebenbürtig. Großartig meisterte Fritz Wunderlich (Tenor) die ekstatischen Ausbrüche seiner Partie und überraschte dabei durch die fast unbegrenzt scheinende Tragkraft seiner Stimme in den exponiertesten Lagen. Daneben Dietrich Fischer-Dieskau: auch in dieser anspruchsvollen Aufgabe der überlegene Sänger, der sich nie ganz verausgabt und dabei doch durch die Kraft des sängerischen Ausdrucks und durch die natürliche Substanz seines edlen Organs auch über die sehr weit ausgesponnenen Kontemplationen des sechsten Gesanges bis zum letzten Takt zu fesseln vermochte.

[...]

Rudolf Stöckl

zurück zur Übersicht 1964
zurück zur Übersicht Kalendarium