Zum Liederabend am 7. April 1963 in Hannover

Hannoversche Allgemeine Zeitung, 9. April 1963

Ein Traumbild Schuberts

Liederabend Dietrich Fischer-Dieskau im Aegi-Theater

Dietrich Fischer-Dieskau und Günther Weißenborn, die im Rahmen des Konzertzyklus Pro Musica im ausverkauften Theater am Aegi in Hannover wieder einmal einen Liederabend gaben, widmeten ihr Programm nur Franz Schubert. Einen ganzen Schubert-Abend zu gestalten, das kann heute mit voller Berechtigung vielleicht nur dieser begnadete Berliner Bariton wagen, weil er mit seiner herrlichen Stimme und seiner künstlerischen Intelligenz nicht nur den Lyriker zu seinem Recht kommen läßt, sondern auch das "Dramatische" der Lieder leidenschaftlich aufzudecken und so mit seinem Konzert ein spannendes, bewegendes, ja erregendes Interesse aufzuprägen vermag.

Die Reihe der "dramatischen" Schubert-Gesänge begann mit Goethes "Erlkönig". Wie Fischer-Dieskau mit verschiedenem Stimmausdruck die Worte des Vaters und des "Erlenkönigs" erschütternd gegeneinander absetzte, wie er das Lied zur "sprechenden" Ballade erweiterte und steigerte, diese phantastische Charakterisierungsmöglichkeit besitzen nur ganz wenige Liedersänger. Im ersten Teil seines Programms bevorzugte der Sänger auch weiterhin die tragischen, sehr selten zu hörenden Stücke ("Gruppe aus dem Tartarus", "Memnon", "An die Freunde", "Freiwilliges Versinken", "Heliopolis"). Es ist merkwürdig, diese verborgen gebliebenen Lieder erhalten plötzlich durch intensive, majestätische Verbindung von Wort und Ton, wie sie Fischer-Dieskau am Herzen liegt, eine gesangliche Ausstrahlung, die beinahe mehr von ihrem Sinngehalt herauszukristallisieren scheint als ihnen innewohnt. Es sind keineswegs charakteristische Lieder Schuberts, vielleicht auch keine seiner besten, der Künstler aber vermag sie seinem begeistert mitgehenden Publikum in einer Weise nahezubringen, als seien sie sein ureigenster Besitz als Interpret, seine nur durch ihn mögliche Wiederentdeckung. Die Wiedergabe wird zur Enthüllung der einsam streifenden Seele des großen Liederkomponisten.

Jedes Wort steht hell und klar im Raum, man braucht den Text im Programm gar nicht mitzulesen, so selbstverständlich formt sich bei Fischer-Dieskau die Gesangslinie aus gesungener Wortdichtung. Und das alles zusammen, Text und Musik, die lyrischen und dramatischen Seiten werden durch diesen Schubertsänger zu einem mitreißenden melodischen Kontinuum erhoben, wobei man nie in Verlegenheit kommt zu fragen, wem nun der Vorrang gebührt, dem lyrischen oder dramatischen Gestalter Fischer-Dieskau. Die Einheit in der Vielfalt der Schubertschen Lieder, das ist es, was durch die unerschöpfliche Ausdrucksgewalt des Sängers und seines in jedem Moment aus der ganzen Fülle des Klavierparts heraus mitgestaltenden Partners Weißenborn zum Erlebnis wird. Für den zweiten Teil des Abends hatte der Sänger bekanntere Lieder gewählt, den "Musensohn", "Du bist die Ruh", "Das Ständchen". Wie leicht und unbeschwert erklang "Der Einsame"! Unbeschreiblich die letzten Worte an das zirpende Heimchen im Zimmer: "Wenn euer Lied das Schweigen bricht, bin ich nicht ganz allein!" Unvergeßlich auch, wie Fischer-Dieskau mit dem Goldglanz seiner Stimme das "Abendrot" auskostete! Der Kritiker muß zur Erkenntnis kommen, daß die Fähigkeit des Wortes bei der Darstellung solcher Eindrücke versagt. Fischer-Dieskau weiß in den schönsten Momenten seines Liederabends ein Ideal, oder sagen wir ein Traumbild der poetischen Harmonie dieses Liederkomponisten zu vermitteln, das sich jedem Vergleich zu entziehen scheint.

Erich Limmert

   

     Hannoversche Presse, 9. April 1963     

   

Ein herrlicher Schubertabend

Fischer-Dieskau und Weißenborn im Theater am Aegi

    

Wäre es nach den Hörern gegangen, hätte der Schubertabend von Dietrich Fischer-Dieskau und Günther Weißenborn im Theater am Aegi noch um einige Liedergruppen verlängert werden können, obwohl sich die gebefreudigen Künstler bereits zu sechs Zugaben bereit gefunden hatten: denn der vielseitige Sänger suchte dabei vor allem jene stillen Bezirke auf, wo er als Liedgestalter auf einsamer Höhe steht: Welch zauberhafte Verhaltenheit lag über "Nachtviolen"! Und wie verbanden sich deklamatorisch im "Wanderer an den Mond" besinnliches Philosophieren und rüstiges Schreiten! "Geheimes" ließ verschmitzt verborgene Gedanken aufblitzen, gefolgt von einer kleinen Schwärmerei "An Sylvia". Und konnte von den hartnäckigen Hannoveranern mit dem humorvoll winkenden "Ade, du muntere Stadt..." der Abschied noch nicht ganz erreicht werden, so war dann doch durch "Nacht und Träume" wenigstens ein besonders stimmungsvoller Abschluß gegeben.

In diesen verhalten vorgetragenen Liedern verschmolzen Dietrich Fischer-Dieskaus herrliche stimmlichen Mittel mit seinem schlichten und doch so fein nuancierten Vortrag zu einer idealen Einheit. Auf dieser Ebene hatten zuvor auch Lieder wie "Der Musensohn", "Der Einsame" oder "Die Sterne" gelegen. Solche Geschlossenheit wurde in einigen Liedern der reichhaltigen und sehr geschickt zusammengestellten Folge nicht unbedingt angestrebt.

Jeder Sänger, der im Konzertsaal wie auf der Bühne zu Hause ist, steht zwangsläufig vor der Frage, wieweit er Elemente des einen Bereichs mit dem des anderen mischen soll. Innerhalb eines Liedes sollte da die Ausdrucksskala nicht zu weit gespannt werden. "An die Leier" beispielsweise zeigte eine Überhöhung der Rezitativ-Teile ins dramatisch Trotzige und das kantable Lyrische stand dazu in um so stärkerem Kontrast. Auch "Der Wanderer" erhielt Steigerungen von ungewöhnlicher Gewalt, die die Geschlossenheit des "Liedes" gefährdeten; zu emphatischem Aufschwung steigerte sich auch das berühmte "Ständchen". Großartig jedoch die Dramatik der "Gruppe aus dem Tartarus", das herbe "Auf der Bruck" und nicht zuletzt "Der Erlkönig". Und welche Weite erfüllte das stille Lied "Im Abendrot"! Besonders dankbar zu begrüßen war aber die Begegnung mit den seltener zu hörenden Liedern "An die Freunde", "Memnon", "Heliopolis" und "Freiwilliges Versinken".

Als Partner am Flügel saß wieder Günther Weißenborn. Dieser feinfühlige Musiker weiß mit sicherem Griff Atmosphäre und Farbe zu geben. Zudem besitzt er die große Kunst, sich nicht nur auf Schuberts überreiche Liedwelt einzustellen, sondern auch auf den persönlichen, ausdrucksstarken Vortragsstil des großen Sängers. Solche Geschlossenheit der Auffassung führte in diesem Konzert des Zyklus "Pro Musica" zu einem ungewöhnlichen musikalischen Erlebnis und zeitigte den begreiflichen Wunsch, den Künstlern nach ihrem reichhaltigen Liederabend noch möglichst viele Zugaben abzutrotzen.

Werner Freytag

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