Zum Konzert am 24. März 1963 in Berlin

Die Welt, 25. März 1963

Dem Andenken von Ferenc Fricsay

Rafael Kubelik, Menuhin und Fischer-Dieskau mit den Radio-Sinfonikern

Auf Reden, die dem Andenken eines Toten nur in seltenen Fällen wirklich dienen, hatte das Berliner-Radio-Sinfonieorchester verzichtet, als es sich zu einem Gedenkkonzert für Ferenc Fricsay im Haus des Rundfunks zusammenfand. Es wurde nur musiziert: Yehudi Menuhin spielte das E-Dur-Konzert von Bach, Dietrich Fischer-Dieskau – gleich Menuhin dem verstorbenen Dirigenten durch lange Zusammenarbeit verbunden – sang überragend den "Abschied" aus Mahlers "Lied von der Erde", Rafael Kubelik dirigierte. Er begann den Abend mit dem Trauermarsch aus der "Eroica".

Kubelik gilt als einer der möglichen Nachfolger Fricsays am Pult dieses Orchesters. Man würde in ihm einen Dirigenten von jahrzehntelanger Praxis von internationalem Ruf gewinnen. Viele Male haben wir Kubelik hier mit den Philharmonikern gehört. Die Eindrücke waren verschieden stark. Nicht immer strahlte er jenes große Interpretentum aus, das man von ihm erwartete; nicht immer schien der Kontakt zum Orchester so eng, wie das für eine exzeptionelle nachschöpferische Leistung nötig gewesen wäre.

Zu den Musikern des Radio-Sinfonieorchesters hat Kubelik jedoch ein ausgesprochen gutes und künstlerisch ergiebiges Verhältnis. Sie spielten, als hätte er sie schon jahrelang in dirigentischer Obhut.

Es ist ein völlig anderes Musizieren als bei Fricsay. Die Stärke Ferenc Fricsays lag immer in der Kunst, die Musik zu stilisieren: Sei es in seinen jüngeren Jahren, daß er ihre Vitalität zwar ausspielte, sie aber zugleich mit eiserner, fast toscaninischer Strenge zügelte; sei es, daß er sie später, als die erste schwere Attacke seines Leidens ihn zu einem radikalen Stilwandel erschütterte, extrem zum Ausdrucksmittel machte.

Rafael Kubelik dagegen läßt die Musik strömen, in warmem, vollem Fluß. In dem so außerordentlich heiklen Adagio des Bach-Konzerts hielt er genau die Mitte zwischen gleichmäßig gelassener Bewegung und jener gewissen Statik, die dem Satz erst seine spezifische Hintergründigkeit verleiht.

Eine gewisse spirituell abstrahierende und, wenn man so will: überhöhende Härte ist ihm allerdings fremd. Dieses kristallisierende Element fehlt, und dadurch wird bei Beethoven wie bei Mahler eine bestimmte Tiefenschicht ihrer Kunst von Kubeliks Deutung nur schwach berührt. Im ganzen jedoch gab der Dirigent den Kompositionen eine Würde, bei aller musikantischen Gelöstheit eine Konzentration und orchestrale Kultur, wie man sie sich zum Anlaß dieses Konzertes nicht ausgeprägter hätte wünschen können.

Joachim Matzner

   

     Tagesspiegel, Berlin, 26. März 1963     

    

Feier für Ferenc Fricsay

Gedenkkonzert des Radio-Symphonie-Orchesters unter Rafael Kubelik

    

Noch einmal, mittelbar und durch eine Zeremonie beschworen, trat die Persönlichkeit Ferenc Fricsays, des zu früh vollendeten, in die Mitte der musikalischen Öffentlichkeit: Das Radio-Symphonie-Orchester, das ihm seinen künstlerischen Rang verdankt, widmete ihm im großen Sendesaal des Funkhauses eine Gedenkfeier; drei große Künstler, der Dirigent Rafael Kubelik, der Geiger Yehudi Menuhin und der Sänger Dietrich Fischer-Dieskau stellten sich, zum Teil andere Verpflichtungen absagend, zur Verfügung, das Andenken eines Musikers zu feiern, dessen Wirken nicht mit seinem Tode vergessen ist. Es war ein Abend von ergreifender, durch keine Unzulänglichkeit getrübter Feierlichkeit. Nicht durch Worte, nicht durch Reden wurde der Tote geehrt, sondern durch Minuten des Schweigens – und durch Musik, die er selbst für seine Muttersprache erklärt hat, die ihm nachgesungen und nachgespielt wurde, als könne ihr Klang ihn noch erreichen; es war ein Abend, der die aktiv Mitwirkenden über sich selbst hinauswachsen ließ; es war, als sei der Geist des Betrauerten noch lebendig und wirke weiter, über den Tod hinaus.

Der Trauermarsch aus Beethovens Eroica, auf dem blumengeschmückten Podium vom Radio-Symphonie-Orchester unter Rafael Kubeliks Leitung gespielt, war die Einleitung; der feierliche Grabgesang mit seinem Wechsel von Schatten und Licht, von Trauer und Trost erklang mit einer Ausdrucksgewalt, die er im alltäglichen Konzert nicht erreichen kann; die alten Formeln der Totenehrung, die schweren, schleppenden Rhythmen, die dumpfen Schläge der Pauke, die schneidenden Akzente der Trompeten, der düstere Reigen der kontrapunktischen Verschlingungen – das alles hatte erschütternd gegenwärtigen Sinn. Yehudi Menuhin spielte Bachs E-dur-Violinkonzert in reinem, großen Stil: ein Beitrag, der über der düsteren Sphäre der Vergänglichkeit stand. Am Ende sang Dietrich Fischer-Dieskau, von Rafael Kubelik und dem Orchester feinfühlig begleitet, den Schlußsatz aus Mahlers Lied von der Erde, die melancholische, von dunklen Gongschlägen eingeleitete Liedphantasie, über der das Wort "Abschied" steht; ein Abendlied, durchklungen von den leisen Stimmen der Natur, vom Schauern des Windes, vom Raunen des Baches, vom entschlummernden Gesang der Vögel, übergehend in die ätherischen Klänge einer anderen, jenseitigen Welt. Die Leistung des Sängers, die mit sezierender Genauigkeit dem Sinn von Wort und Ton nachging, die jede leise Regung der Natur und des Herzens klingen ließ und doch zugleich den weichen, verhüllenden Schleier der Todesschwermut über das Ganze breitete, war das Geschenk einer großen, ernsten Stunde, aus tiefer Ergriffenheit geformt, einmalig und unwiederholbar. Der Künstler, dem dieser Abschied galt, wurde noch einmal in seiner Bedeutung bestätigt; nur wahre Größe weckt in der Welt das Echo, das als Klage über die Grenze der irdischen Gegenwart nachhallt.

Oe

   

     Telegraf, Berlin, 26. März 1963     

    

Gedenkkonzert für Ferenc Fricsay

    

Das Radio-Symphonie-Orchester hatte zu einem Gedenkkonzert für Ferenc Fricsay eingeladen. Mit Recht beschränkte man sich in dieser würdigen Feierstunde im Haus des Rundfunks auf die Musik; es war nicht notwendig, noch einmal in einer Ansprache auf die Bedeutung des Dirigenten Fricsay hinzuweisen; er lebt in dem Gedächtnis seines Orchesters, das ihm Aufschwung und Rang verdankt, und in der Erinnerung der Hörer, die die Entwicklung und Vertiefung seiner Persönlichkeit an zahlreichen Konzertabenden miterleben durften.

Zwei Solisten, die in der Achtung des Berliner Publikums an höchster Stelle stehen, hatten sich uneigennützig für diesen Abend zur Verfügung gestellt: Yehudi Menuhin spielte, nachdem zunächst der langsame Satz aus Beethovens "Eroica" erklungen war, das Solo in Bachs E-Dur-Violinkonzert: Dietrich Fischer-Dieskau sang den vokalen Part in dem schmerzlich-versonnenen "Abschied" aus Gustav Mahlers "Lied von der Erde". Der Dirigent des Konzerts war Rafael Kubelik.

K. R.

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