Zum Liederabend am 16. März 1963 in München

    

     Süddeutsche Zeitung, 18. März 1963     

    

Fischer-Dieskau auf Winterreise

Ein Schubert-Abend im Münchner Herkulessaal

     

"Was .fragen sie nach meinen Schmerzen? Ihr Kind ist eine reiche Braut" - der verlassene Geselle, dessen Freundin lieber eine gute Partie macht, begnügt sich jedoch nicht mit höhnischer Resignation. Gegen alle vermeintliche Logik des Versbaus und der musikalischen Linie wiederholt er die Bekundung des Selbstmitleids ("Was fragen sie nach meinen Schmerzen?") eine Stufe höher, voller Glanz und Wut. So schafft er eine Verbindung zwischen abgerundetem Lied und regelfernem, unwiederholbarem, den Gesetzen des Strophenliedes zuwiderlaufendem Ausbruch: der höheren Logik seelischer Bewegtheit folgend. Die Stelle - es gibt viele ähnliche in Schuberts "Winterreise" - glüht vor wilder Wahrhaftigkeit. Darum eben wird man nach den Schmerzen des enttäuschten Wanderers fragen, so lange es überhaupt noch Lieder gibt.

Dietrich Fischer-Dieskau, der wohl berühmteste Liedinterpret unserer Gegenwart, akzentuiert solche Augenblicke mit einer außerordentlichen Intelligenz. Er hat sich eine beinahe unheimliche Souveränität, Genauigkeit, Unfehlbarkeit erarbeitet. Fischer-Dieskau betont den Kunst-, nicht den Liedcharakter des Zyklus. Dem vollendet Abgezirkelten scheint mitunter ein manieristisches Element beigegeben, das aber dem fahlen, aller Volkstümlichkeit um Selbstmorddistanz fernen, Charakter dieser finster introspektiven Monologe gar nicht so unangemessen ist. Auf die eminente Ernsthaftigkeit des Künstlers, der - ohne Pause und auch ohne alle siegesbewußte Affektiertheit - sich dem Schubertschen Genius des Leiden-Könnens stellt, antwortete die begeisterte Anteilnahme einer riesigen Fischer-Dieskau-Gemeinde. Trotz enorm hoher Preise war der Herkulessaal seit Monaten ausverkauft. Am Ende des Zyklus bereitete das Publikum dem Sänger, indem es zum Podium drängte und klatschte, eine Ovation - so, als gäbe es irgend etwas, was nach dem bereits nicht mehr ausdrucksvollen, ja eigentlich tonlosen Geklimper des "Leiermanns" (mit seinen primitiven, falschen Bässen) überhaupt noch gesungen und "zugegeben" werden könnte.

Schon im eröffnenden "Gute Nacht" waren alle Tendenzen des Zyklus enthalten. Fischer-Dieskau wählte ein in mäßiger Bewegung, vorwärts gehendes Schritt-Tempo. Der Liederkreis, der ja nicht Winter-Katastrophe. sondern, beinahe leichthin, Winterreise heißt, begann in einem fast "objektiven" Ton, so als erzähle ein Wandernder eine Geschichte. Aber was für eine! Schon das Klavier nimmt mitunter Stöhnen vorweg, eine noch (und nur scheinbar) beherrschte Trauer. Fischer-Dieskaus Kunst besteht darin, auf sein Parlando die Schatten beginnenden Wahnsinns fallenzulassen. "Das Mädchen sprach von Liebe, die Mutter gar von Eh'" - dem gibt er noch einen etwas sentimentalen Erinnerungscharakter. Doch wenn es dann bei der Wiederholung heißt: "Es zieht ein Mondenschatten als mein Gefährte mit", tritt ein Moment von innerer Erregtheit zutage, das die Möglichkeit von "Es wird alles wieder gut" ausschließt.

Wahnsinn, Parlando und Empfindsamkeit, diese Komponenten beherrschen bei Fischer-Dieskau den Zyklus. Auch im kleinsten Lied meidet er den "Ausbruch" nicht. Oft beiläufig genommene Stücke, wie "Wasserfluth" und "Einsamkeit" werden bei ihm zu Höhepunkten. Dabei ist er immer so taktvoll; in Strophenliedern Steigerungen, die sich auf eine bestimmte Stelle beziehen (wie etwa den Ausbruch "das heiße 'Weh"), dann gleich viel zurückhaltender zu singen, wenn der Text neutraler ist. ("Nimmt dich bald das Bächlein auf".)

So ist denn alles beisammen: genaueste Deklamation, unfehlbare Technik, die Fähigkeit zu beherrschtem, immer nur an die Grenze des Opernhaften reichendem Forte und ein unheimlich deutliches Pianissimo. Demgegenüber tritt offenkundig das liedhaft kIingende Piano zurück. Alles Glück der Winterreise ist ja in die Vergangenheit gebannt - und die Stellen, da der Elende sich erinnert. bergen Melodien, für deren Innigkeit kein Adjektiv zur Verfügung steht. Wenn es etwa im Rückblick heißt: "Wie anders hast du mich empfangen, du Stadt der Unbeständigkeit", wenn im "Frühlingstraum" die bunten Blumen des Maies beschworen werden, wenn das Herz pocht beim Tone des Posthorns - dann verwandelt sich vergangenes Glück in Melodie. Da aber scheint mir das Piano dieses Sängers allzu diskret, allzu bewußt-deutlich. Keine Seligkeit verliert sich da in Melodie.

Der gleiche Künstler, der das sozusagen versehentlich begütigende "Auf dieser ganzen Reise", bei der wütenden Moll-Wiederholung, die Schubert ersann, um nur nicht sekundenlang den Eindruck aufkommen zu lassen, hier befinde sich vielleicht doch jemand im Gleichgewicht - mit packender Inbrunst singt, hat mit dem Glück des Melos weniger im Sinn. "Im Dorfe" wird zur fahlen Skizze, "Der Wegweiser" allerdings gelingt still und unvergeßlich.

Günther Weißenborn, den Wanderer begleitend, hatte entweder nicht seinen besten Tag oder diesmal zuwenig geübt. Die "Wetterfahne", die Zweiunddreißigstel des "Irrlichts", manche andere pianistische Einzelheit gelang nicht hinreichend - was angesichts der Perfektion des Sängers umso auffälliger war. Im zweiten Teil, aber auch schon bei der großartig interpretierten "Erstarrung", sekundierte Weißenborn sehr musikalisch und immer höchst anpassungsfähig. Allerdings wagte er allzu wenig Selbständigkeit. Das Thema von "Auf dem Flusse" besitzt trotz Staccato-pianissimo die Wucht eines Passacaglia-Basses, über den die Singstimme sich erhebt: wenn der "Begleiter" sich auch da nur anpaßt, statt Gegenspieler zu sein, verliert dieses grandiose Lied einiges von seiner Substanz.

Dem Publikum war Ergriffenheit anzumerken. Fischer-Dieskau und die "Winterreise"; Höheres hat das Konzertleben unserer Tage - mag sich auch über Einzelheiten streiten lassen - nicht zu bieten.

Joachim Kaiser

    

     Münchner Merkur, Datum unbekannt     

    

Die dritte "Winterreise"

Dietrich Fischer-Dieskau singt Schubert im Herkulessaal

   

Während der letzten Monate haben in München bereits vor Dietrich Fischer-Dieskau zwei andere ausgezeichnete Sänger Schuberts "Winterreise" gesungen. So interessant und naheliegend es auch sein mag, die Vorgänger des weltberühmten Baritons zum Vergleich heranzuziehen, größeren Gewinn würde das kaum erbringen.

Sieht man von den rein stimmlichen Qualitäten ab, so kann sich hinsichtlich der Interpretation ein wesentlicher Unterschied auch kaum bemerkbar machen, da die geistige und seelische Sphäre dieses Liedzyklus musikalisch eindeutig fixiert ist. Allerdings bietet sich einem Sänger in den so unendlich weiten und fast unausschöpfbaren seelischen Gründen, die Schubert hier in seinem Schwanengesang ausgelotet hat, eine reiche Fülle an Möglichkeiten subtiler Variierung im einzelnen an.

Fischer-Dieskaus Kunst im nuancierenden Ausschwingenlassen des jeden Takt der Winterreise erfüllenden gedanklichen Gehalts ist uns von seinen Schallplattenaufnahmen vertraut. Aber so konzentriert durchgestaltet sich auch jedes der Lieder in der Aufnahme präsentiert – ist es doch immer wieder ein Erlebnis, im direkten Kontakt mit diesem Sänger an dem eigentlichen künstlerischen Schaffensvorgang teilnehmen zu dürfen, mit ihm im allmählichen Vortasten und in stetig zunehmender Intensivierung bis in die geheimsten Kammern der Schubertschen Vorstellungskraft vorzudringen.

Fischer-Dieskau folgt der vorgezeichneten Entwicklung in jeder Phase. Klar umrissen erscheint zu Anfang das Bild des enttäuschten jungen Liebhabers, der in wehmütigem Schmerz oder voll bitterer Ironie der Verlorenen nachtrauert. Doch ebenso wie im Ablauf der Musik sich dieses Bild schnell verflüchtigt und an seine Stelle die Erscheinung des einsamen Menschen schlechthin tritt, ebenso ändert auch die Stimme Fischer-Dieskaus ihre Farbe im Wechsel von geisterhaft aufklingenden Pianissimo-Schwebungen und dunkelglühenden Forte-Ausbrüchen.

Der Geist der echten Romantik wird heraufbeschworen, nicht jenes abgeflachte Sichverlieren in momentan aufwallenden Gefühls-Stimmungen, sondern das Bewußtsein von der schicksalhaften Einsamkeit alles menschlichen Seins – begreifbar und erlebbar nur in der quälenden Auseinandersetzung mit sich selbst, die in ihren resignierenden Ergebnissen dann zur Sehnsucht nach der Ruhe des Todes führt.

Wie sich dieses Verlangen von Lied zu Lied verstärkt und sich schließlich in den Schlußmonologen – dem inbrünstig stillen "Wirtshaus", den in visionärem Licht aufglänzenden "Nebensonnen" und dem in einer letzten Frage ausklingenden "Leiermann" – verdichtet, das enthüllte sich aus Fischer-Dieskaus Schau mit aller Eindringlichkeit. Wieder einmal triumphierte die faszinierende Kunst dieses Sängers, der inneren Gestalt dieses genialen Lieder-Universums vollkommen Ausdruck zu geben.

Man vergaß darüber fast die berückende Schönheit seiner Stimme, den feinen Schmelz jedes einzelnen Tones, die mühelosen Übergänge von einem Register ins andere – so selbstverständlich schienen alle sängerischen Vorzüge aufzugehen im Ausleuchten des inneren Kerns dieser Lieder. Günther Weißenborn hatte als subtil differenzierender Mitgestalter am Klavier hervorragenden Anteil am Gelingen dieses Abends, der an Intensität noch dadurch gewann, daß Fischer-Dieskau die Winterreise ohne Pauseneinbruch geschlossen vortrug. Das sichtlich ergriffene Publikum huldigte im – selbstverständlich – ausverkauften Herkulessaal dem großen Liedersänger mit begeisterten Ovationen.

Helmut Lohmüller

 

    

     Münchner Abendzeitung, 18. März 1963     

      

Fischer-Dieskau im Herkulessaal

Eine neue Winterreise

Wer von Dietrich Fischer-Dieskau bereits Schuberts "Winterreise" gehört oder gar deren Bild durch Schallplatten fixiert hatte, konnte beim Liederabend des Sängers im Herkulessaal die Wandelbarkeit und Neuschöpfung großer, nachschaffender Kunst erleben. Es war als hörte man dieses Seelendrama der Verlassenheit zum ersten Male, selbst wenn man schon lange jedes Wort und jede Note auswendig kennt.

Fischer-Dieskau fand, wie in augenblicklichem Empfinden, nie gehörte Nuancen und Phrasierungen, die den Stimmungsgehalt der Lieder in ungeahnter Weise vertieften und erweiterten. Wie der Sänger bisweilen bei einer harmonischen Rückung im Lied Lyrik in Dramatik zu verwandeln wußte, war wunderbar. Dies alles geschah mit einer unbegrenzten Freiheit der Stimme, der jeder Grad an Stärke, Höhe und Ausdruck ungehemmt zu Gebote steht. Fischer-Dieskaus Synthese von künstlerischen Momenten und natürlichen Voraussetzungen macht ihn zu einem vollkommenen Sänger, der in jeder Epoche ein Idealtyp wäre, weil er das Kunstwerk, das er interpretiert, gleichsam verkörpert.

Höchst inspiriert und der Sängerleistung ebenbürtig, war Günther Weißenborns Spiel am Klavier. Allmählich aus der Verzauberung erwachend wurde man wieder einmal der Sternenhöhe des Schubertschen Ingeniums im Lied gewahr, die nie mehr erreicht wurde und gewiß nie mehr erreicht werden wird.

Mingotti

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