Zum Liederabend am 21. August 1960 in München    

     Süddeutsche Zeitung, 24. August 1960     

Fischer-Dieskau am Scheideweg

Zu einem Liederabend des Sängers

    

Muß zu seinem Lobe noch etwas gesagt werden? Er ist gewiß das größte Talent, das seit dem 2. Weltkriege auf den Konzertpodien Europas erschien, seine Wiedergabe der "Schönen Müllerin" ergriff und war vollendet: der Schreiber dieser Zeilen hat damals davon, so gut und inständig er es vermochte, geschwärmt. Inzwischen hat nun auch die Oper den Künstler nicht nur für sich entdeckt, sondern immer stärker an sich gezogen. Sein Falstaff, sein Mandryka, sein Wolfram gelten als absolute Höhepunkte.

Fast ängstlich habe ich darauf gewartet, wann sich denn nun einmal die Grenzen dieses Stimm- und Gestaltungsphänomens zeigen würden, dieses Sängers, der Schubert und Schönberg, Wagner und Strauss mit gleicher Verve gewachsen zu sein scheint. Jetzt, im Herkulessaal, ausgerechnet bei einem Hugo-Wolf/ Johann-Wolfgang-von-Goethe-Abend, sind sie zutage getreten. Es ist kein leichter Entschluß, das dem ersten Sänger (er ist nach wie vor fast ohne Konkurrenz!) zu sagen – aber wird nicht auch alles einstige Lob entwertet, wenn man die Aufrichtigkeit nun hinter taktischen Erwägungen zurücktreten läßt?

Dietrich Fischer-Dieskau kann immer noch alles. Er trifft die Töne schlafwandlerisch, hat Nuancen vom gehauchten Pianissimo bis zum schmetternden Forte. Er kann alles und macht (darum?) zu viel. Die Lieder gleichen mitunter den Ringmauern von Jericho, die eine Posaunenstimme in Trümmer legt. So vollendet die Phrasierung sein mag (wie gesagt, Fischer-Dieskau handelt nicht aus Not, sondern aus Überfluß falsch), so sehr werden die Proportionen eines Kunstliedes zerstört, wenn etwa innerhalb der schwermütig getragenen, kurzen Harfner-Lieder ein schallendes Fortissimo erklingt. Wolf hat die "Pein", um nur ein Beispiel zu wählen, schon komponiert, man braucht sie nicht noch aus vollster Kraft zu bringen, als wäre die Verzweiflung des Amonasro im III. Aida-Akt donnernd vorzutragen. Aus übersprudelnder Kraft machte Dieskau alle Steigerungen zu selbstsicheren Entladungen. Man hatte förmlich Angst vor den Crescendo-Stellen, weil man wußte, daß er sie viel zu gut bewältigen und die Intimität dieser bei aller gewaltigen Tragik doch differenziertesten Lieder, die je geschrieben wurden, zerstören würde.

Vollendet war das Leise, das Launige. Wenn der Komponist dem Sänger keine Möglichkeit zum Forcieren, zum Brillieren ließ, dann war er so gut wie immer, wenn auch die Höhe sich noch mehr entwickelt zu haben scheint, während die Tiefe ein wenig verblaßt ist.

Und noch eins: Früher hatte er es doch nicht nötig, auch während der Vor- und Nachspiele des Klaviers die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen? Jetzt neigt er dazu, manchmal noch ins Nachspiel mitzusingen, zu trällern, zu pfeifen, jetzt scheint er schon während des Vorspiels wie ein Panther auf seinen Einsatz zu warten. Mag sein, daß sein Temperament ihn zu solchem "Mitgehen" verführt. Es wirkt jedoch ein wenig manieriert und läßt nicht ganz jenen beglückenden Eindruck aufkommen, den Fischer-Dieskau ohne solche seiner selbst ein wenig unwürdigen Mittel früher hervorzubringen wußte. Fordert da die Oper ihren Tribut? Hat es Sinn, solche Einwände zu machen?

Gerald Moore, von vielen Schallplatten als wohl bester Begleiter der Gegenwart bekannt, war anfangs fast zu zurückhaltend. Im zweiten Teil des Konzertes zeigt er sich der Gewalt des Sängers besser gewachsen. Beide Künstler hatten stürmischen Beifall.

J. K.


   

     Münchner Merkur, 23. August 1960     

Fischer-Dieskau, Hugo Wolf und Goethe

    

Ein Abend mit Goetheliedern. Man denkt zuerst an S. Exzellenz, den Dichterfürsten, der als musikalischen Berater und über alle Komponisten seiner Lyrik als besten den tüchtigen Karl Friedrich Zelter schätzte, der eine Widmungsbitte Schuberts für einen Band Goethelieder, durch Schuberts Freund Spaun um diese Gnade "in Untertänigkeit" angegangen, unbeantwortet ließ...

Damit sind die Gedanken bei Schubert und seinen Goethe-Vertonungen, ihrer sinnfälligen Kongruenz von Dichtung und Musik, Gesangslinie und lyrischem Wort, ihrer nachtwandlerischen, aus einem natürlichen Gefühl für liedhafte Form entstandene Sicherheit, Goethes Dichten musikalisch einzuschmelzen. Goethe verstand ihn nicht, Schubert war ihm zu ebenbürtig.

Was Goethe wohl gesagt hätte, wenn er Hugo Wolfs 37 Kompositionen seiner Gedichte erlebt hätte, jenes Hugo Wolf, der alles an Stimmung und Inhalt nicht nur der Singstimme, sondern in oft über diese reichender Spannweite dem Klavierpart anvertraut hat, der nicht wie Schubert ein musikalischer Vollzieher des dichterischen Auftrags, vielmehr ein Neugestalter der dichterischen Vorlage war.

Man vergleiche die beiden Ganymed-Vertonungen: Dort – bei Schubert – strömende Melodie, deren Atem sich unaufhörlich zur großen Steigerung der Schlußstrophe "Ich komme" und deren weihevollem Bogen-Ende "Alliebender Vater" aufschwingt, hier – bei Wolf – Hauptträger des Ausdrucks die melodisch und harmonisch dichtgefügten Partien des Klaviers, in das die Gesangslinie eingebettet ist.

Um so schwieriger die Aufgabe des Sängers. Aus seinem Mund erwartet man Goethe, er muß sich behaupten. Und dies ist der Grund, weshalb Wolf-Goethe so schwer zu singen ist: ein Reservat für wenige.

Dietrich Fischer-Dieskau gehört zu ihnen. Sein Liederabend im Herkulessaal erwies ihn erneut als den "liederreichen" Bariton, als der er erst vor kurzem hier benannt worden ist. Ihm ist, wir wissen es, Schuberts herrliches Strömen in Melodie ebenso gegeben wie Wolfs "Gesamtkunstwerk". Man wünscht sich, einmal von ihm etwa die beiden "Ganymeds" nacheinander zu hören.

Die gefüllte Schale von Fischer-Dieskaus "Liederreichtum" enthält Lyrisches wie Dramatisches. Sie neigt sich bei Wolf-Goethe zu ersterem, zum Zarten, unaussprechlich Heimlichem in "Anakreons Grab", auch zum seltsamen Goetheschen Humor, der mehr ein denkender als ein lachender ist, in "Der neue Amadis" zum Beispiel. Wohlklang zeichnet die (wohl schönsten der Goethe-Wolf-Lieder) drei Gesänge des Harfenspielers aus. Fischer-Dieskau gibt ihnen dramatische Forte-Akzente.

Ein Muster der präzisen Deklamation (man könnte auf den gedruckten Text verzichten) sein "Rattenfänger", Anlaß das Volumen seiner Höhe zu zeigen: "Grenzen der Menschheit" und "Prometheus".

Am Klavier ein vollkommener Hugo-Wolf-Begleiter: Gerald Moore. Ihm entgeht keine Ausdrucksnuance, kein Ton ist ohne Bedeutung, und doch vermeidet er die Gefahr der Überlagerung (dank eines sensiblen Anschlags). Die stete Rücksicht auf die Singstimme schien sogar dann und wann zu sehr im Vordergrund.

Begeisterter Dank eines begeisterten Hauses an beide Künstler. Zugaben und gesteigerte Begeisterung (darunter in unnachahmlicher Schönheit "Weylas Gesang").

Ludwig Wismeyer


   

     Aus dem Buch: "Erlebte Musik – Teil 2" von Joachim Kaiser     

    vom 24. August 1960

Dietrich Fischer-Dieskau

     

Muß zu seinem Lobe noch etwas gesagt werden? Er ist gewiß das größte Talent, das seit dem Zweiten Weltkrieg auf den Konzertpodien Europas erschien; seine Wiedergabe der "Schönen Müllerin" ergriff und war vollendet – der Schreiber dieser Zeilen hat damals davon, so gut und inständig er es vermochte, geschwärmt. Inzwischen hat nun auch die Oper den Künstler nicht nur für sich entdeckt, sondern immer stärker an sich gezogen. Sein Falstaff, sein Mandryka, sein Wolfram gelten als absolute Höhepunkte.

Fast ängstlich habe ich darauf gewartet, wann sich denn nun einmal die Grenzen dieses Stimm- und Gestaltungsphänomens zeigen würden, dieses Sängers, der Schubert und Schönberg, Wagner und Strauss mit gleicher Verve gewachsen zu sein scheint. Jetzt, im Herkulessaal, ausgerechnet bei einem Hugo-Wolf/ Johann-Wolfgang-von-Goethe-Abend, sind sie zutage getreten. Es ist kein leichter Entschluß, das dem ersten Sänger (er ist nach wie vor fast ohne Konkurrenz) zu sagen – aber wird nicht auch alles einstige Lob entwertet, wenn man die Aufrichtigkeit nun hinter taktischen Erwägungen zurücktreten läßt?

Dietrich Fischer-Dieskau kann immer noch alles. Er trifft die Töne schlafwandlerisch, hat Nuancen vom gehauchten Pianissimo bis zum schmetternden Forte. Er kann alles und macht (darum?) zu viel. Die Lieder gleichen mitunter den Ringmauern von Jericho, die eine Posaunenstimme in Trümmer legt. So vollendet die Phrasierung sein mag (wie gesagt, Fischer-Dieskau handelt nicht aus Not, sondern aus Überfluß falsch), so sehr werden die Proportionen eines Kunstliedes zerstört, wenn etwa innerhalb der schwermütig getragenen, kurzen Harfner-Lieder ein schallendes Fortissimo erklingt. Wolf hat die "Pein", um nur ein Beispiel zu wählen, schon komponiert, man braucht sie nicht noch aus vollster Kraft zu bringen, als wäre die Verzweiflung des Amonasro im dritten Aida-Akt donnernd vorzutragen. Aus übersprudelnder Kraft machte Dieskau alle Steigerungen zu selbstsicheren Entladungen. Man hatte förmlich Angst vor den Crescendo-Stellen, weil man wußte, daß er sie viel zu gut bewältigen und die Intimität dieser bei aller gewaltigen Tragik doch differenziertesten Lieder, die je geschrieben wurden, zerstören würde.

Vollendet war das Leise, das Launige. Wenn der Komponist dem Sänger keine Möglichkeit zum Forcieren, zum Brillieren ließ, dann war der so gut wie immer, wenn auch die Höhe sich noch mehr entwickelt zu haben scheint, während die Tiefe ein wenig verblaßt ist.

Und noch eins: Früher hatte er es doch nicht nötig, auch während der Vor- und Nachspiele des Klaviers die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Jetzt neigt er dazu, manchmal noch ins Nachspiel mitzusingen, zu trällern, zu pfeifen, jetzt scheint er schon während des Vorspiels wie ein Panther auf seinen Einsatz zu warten. Mag sein, daß sein Temperament ihn zu solchem "Mitgehen" verführt. Es wirkt jedoch ein wenig manieriert und läßt nicht ganz jenen beglückenden Eindruck aufkommen, den Fischer-Dieskau ohne solche seiner selbst ein wenig unwürdigen Mittel früher hervorzubringen wußte. Fordert da die Oper ihren Tribut? Hat es Sinn, solche Einwände zu machen?

Gerald Moore, von vielen Schallplatten als wohl bester Begleiter der Gegenwart bekannt, war anfangs fast zu zurückhaltend. Im zweiten Teil des Konzerts zeigte er sich der Gewalt des Sängers besser gewachsen. Beide Künstler hatten stürmischen Beifall.

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