Städtische Oper Berlin am 10. Februar 1959

 

Tagesspiegel, Berlin, 12. 2. 1959

Das Meisterwerk des Revolutionärs Hindemith

"Mathis der Maler" – West-Berliner Erstaufführung in der Städtischen Oper

[...] Daß die Aufführung der Städtischen Oper das Werk von seinem Kern her nahm, daß sie die Historie Bild, die Legende Vision werden ließ und das Menschliche schlicht und schmucklos durch sich selbst sprechen machte, ist ihre Stärke. Richard Kraus hat in dieser Hindemith-Partitur eine Aufgabe gefunden, die seinem Naturell vollkommen entspricht. Er ist gründlicher, herzhafter Musiker genug, den kunstvollen Orchestersatz bis in die Einzelheiten durchzuarbeiten, den charakteristischen, herben und bindungslosen Instrumentalklang mit den konzertierenden Holzbläsern, Trompeten und Posaunen zu treffen, und er ist Theaterdirigent genug, die Singstimmen zu führen und dem Ganzen mitreißenden dramatischen Elan zu geben; vom intensiv und feinfühlig musizierten Vorspiel bis zur unendlichen Fermate des Schlußakkords gab es keinen leeren Augenblick. Der Regisseur Wolf Völker entschied sich für farbige, sinnennahe Bildhaftigkeit, für Bejahung des Historisch-Realen und für Realisierung des Phantastisch-Mystischen. Rochus Gliese, nach langer Zeit wieder an einer West-Berliner Bühne tätig, hatte die schwere Aufgabe, mit den Möglichkeiten der Bühnenmalerei einen Reflex der ekstatischen Bildwelt Mathis Nithards zu geben, Er wählte für Landschaft und Interieur erdige und sandige Töne, stellte, was seit Preetorius wohl niemand gewagt hat, einen veritablen Wald auf die Bühne und ließ das Ganze gipfeln in der barocken Phantasmagorie des Geisterspuks, dessen geschnäbelte, geflügelte, gedunsene und verkrüppelte Zerrbilder aus Bildern des Malers geschnitten sind. Zweifellos kann man den "Mathis" auch ganz anders inszenieren: was aber hier geschah, war eindringlich wirksam und in sich konsequent, es war großes, schöpferisches Theater.

Die Sängerbesetzung war hervorragend, es ist nicht wahrscheinlich, daß diese Oper jemals besser gesungen worden ist, Dietrich Fischer-Dieskau hat mit dem Mathis seinen Bühnengestalten eine imposante Figur hinzugefügt. Schwer, fast dumpf, ringend und zweifelnd, wild aufbegehrend und still resignierend geht er durch beide Welten, die leidvolle der Wirklichkeit und die dunklere, qualvollere des Traumes, gesanglich von einer Ausdruckskraft, die im Leisesten so stark ist wie im stürmischen Ausbruch. Sein Partner Helmut Melchert, der Kardinal AIbrecht von Brandenburg, macht die Wandlung des genußfrohen Kirchenfürsten zum Asketen glaubhaft und gibt dem Heiligen Paulus der Vision nicht nur die eindringliche Geste, sondern auch den sakralen Glanz tenoraler Kantilene. Herrlich klingt die Stimme Gladys Kuchtas, die der passiv zwischen den Männern stehenden Figur der Ursula musikalisches Leben gibt. Pila Lorengar als kindliche Regina, Walter Geisler als Bauernführer Schwalb, Peter Roth-Ehrang als Bürger Riedlinger, der von Hermann Lüddecke studierte Chor in vielfältigen Aufgaben auf der Bühne und im Orchester runden eine Aufführung von packender Eindruckskraft und zeugen für ein Werk, das das Theater erhöht, weil es über das Theater, über die Sphäre des Spiels und des Scheins hinausgreift, weil es die Schuld der Kunst an das Sein begleicht.

Werner Oehlmann


unbekannte Presse

In jeder westdeutschen oder süddeutschen Stadt wäre es möglich, am Fastnachtsdienstag mit einer großen Opernpremiere aufzuwarten. Aber an der Spree liegt den Menschen eben ganz fern, was am Rhein und an der Isar beglückende Tradition ist. Die Städtische Oper suchte sich für diesen Tag sogar das allerschwerste Geschütz aus: Hindemiths vier Stunden dauerndes, einst heftig befehdetes, jetzt aber als Zentralwerk anerkanntes Meisterdrama von Mathias Grünewald, dem Maler des Isenheimer Altars.

Es ist gut, daß das Gefühl der Verpflichtung Paul Hindemith gegenüber in dieser Neueinstudierung Ausdruck gefunden hat. Wir dürfen nicht über den Mangel an neuen großen Bühnenwerken klagen, solange wir Schöpfungen dieses Ranges übersehen. Gewiß wird hier nicht getändelt und gescherzt, sondern wir befinden uns immer "auf höchster Ebene".

Vermutlich hat sich die Städtische Oper für dieses anspruchsvolle Werk entschieden, weil sie in Dietrich Fischer-Dieskau eine ideale Besetzung der Hauptrolle zur Verfügung hatte. Er macht aus dem ringenden Maler die ergreifende Gestalt eines Künstlers, der mit allen Dämonen kämpft und an der Welt scheitert, um einmal eine begnadete Stunde seines Ingeniums erleben zu dürfen. Fischer-Dieskau beherrscht die Kunst der Menschendarstellung, die auf der Opernbühne sonst nur selten Wirklichkeit wird.


FAZ, 17. Februar 1959     

Rückblick auf "Mathis der Maler"

Zur Hindemith-Premiere in Berlin

[...]

Rochus Gliese, als Gast für das Bühnenbild gewonnen, hat leider den stilistischen Ausgleich zwischen Tradition und Wagnis hier nicht gefunden. Als Konstanten verwendet er zwei gotische Portale, die rechts und links den Guckkasten abschließen, sowie einen schräg zum Hintergrund steigenden Boden. Alle Architektur dazwischen ist farbig und als Form konventionell oder geschmäcklerisch. Zwei optische Labsale: das Kriegsbild und der Odenwald mit dem Antoniustraum. Da spürt man die Hand des großen Bühnenbildners, die Phantasie eines Künstlers, für den Natur von Dämonen bevölkert ist.

Und Dämonen fallen über die Szene her, wenn Tatjana Gsovsky den apokalyptischen Sabbat der Laster und Lüste entfesselt. Das ist ein Höhepunkt in den Masken wie in der Gestaltung dramatischer Choreographie.

Dietrich Fischer-Dieskau singt und spielt die Titelpartie. Es ist, wie immer bei ihm, eine durchdachte, durchfühlte, durchlebte Leistung. Da stehen – ganz abgesehen von den Köstlichkeiten der Tongebung, der Intelligenz in Phrasierung und Dynamik – immer wieder diese erleuchteten Momente der Identifikation, in denen man – völlig illusioniert – dem Darsteller einfach glaubt, was er singt. Und doch bleibt ein Rest, den man etwa im "Doktor Faust" oder im "Falstaff" nicht wahrgenommen hat. Man hat mitunter das Gefühl, daß Fischer-Dieskau sich durch die Rolle beengt fühlt, so als sei er selbst über ihr Maß hinausgewachsen.

Wie einst als Mephistopheles steht ihm hier Helmut Melchert als Kardinal Albrecht gegenüber. Seine darstellerische Klugheit, seine Musikalität überspielt manche offenbaren Unsicherheiten und eine anfängliche Indisposition. Überzeugendste Leistung in den übrigen Männerpartien: Theo Altmeyer als Capito. Da steht ein sehr individuell gefärbter Tenorklang im Dienst lockerer Technik und geschmacksicherer Konzeption.

Von den Frauen ist Pilar Lorengar als Regina wieder Ohrenlust und Augenweide zugleich. Wie diese lyrische Sopranstimme sich im Geist der deutschen Sprache entwickelt, wie sie Lieblichkeit und Herbheit des Volksliedes reflektiert, das gehört zu den Ereignissen des Berliner Opernlebens.

Ein neuer Name: Gladys Kuchta. Sie hat für die große Szene der Ursula einen schwingenden, kraftvollen Diskant einzusetzen, ohne als Figur auf der Szene noch ganz gelöst zu wirken. Nada Puttar ist eine schön singende, mänadisch aussehende Gräfin.

Richard Kraus dirigiert. Er tut es mit der Hingabe und Partiturkenntnis, die man an ihm schätzt, ein eifernder Anwalt Hindemiths und Führer des schön musizierenden Orchesters, des glänzenden Chors. Und doch gerät ihm das Engelskonzert etwas matt und ohne die letzte Steigerung ins Hymnische. Was da fehlt, ist mitunter in der Begleitung der Sänger zu viel. Erst im zweiten Teil, namentlich in der Versuchungsszene, wird der dramatische Horizont aufgerissen, in den stillen Schlußbildern der lyrische Unterton angeschlagen.

Der Abend hinterläßt geteilte Wirkungen. Sein Erfolg steigert sich am Schluß langsam zu Ovationen für Fischer-Dieskau, starkem Beifall für alle Mitwirkenden. "Mathis" ist und bleibt Dokument einer errregenden geschichtlichen Situation, aber auch Wendepunkt im Schaffen eines Musikers, der von den ihm offenstehenden Freiheiten die der Resignation gewählt hat.

H. H. Stuckenschmidt


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