Montag, 26. März 1984, 20.00 Uhr, Stuttgarter Liederhalle - Beethovensaal,

  Dietrich Fischer-Dieskau
Pianist: Hartmut Höll

Brahms-Liederabend
Johannes Brahms (11833-1897)

  An eine Äolsharfe, op.19,5 (Eduard Mörike)
Wie rafft' ich mich auf, op. 32,1 (August Graf von Platen)
Nicht mehr zu dir zu gehen, op.32,2 (Georg Friedrich Daumer)
Der Strom, der neben mir verrauschte, op. 32,4 (August Graf von Platen)
Wehe, so willst Du mich wieder, op.32,5 (August Graf von Platen)
Abenddämmerung, op. 49,5 (Adolf Friedrich Graf von Schack)
Der Gang zum Liebchen, op. 48,1 (böhmisch)
Auf dem See, op. 59,2 (Karl Simrock)
Tambourliedchen, op. 69,5 (Candidus)

Serenate, op. 70,3 (Johann Wolfgang v. Goethe)
Abendregen, op. 70,4 (Gottfried Keller)
Es liebt sich so lieblich, op. 71,1 (Heinrich Heine)
Geheimnis, op.71,3 (Candidus)
Unüberwindlich, op. 72,5 (Johann Wolfgang v. Goethe)
Therese, op. 86,1 (Gottfried Keller)
Bei dir sind meine Gedanken, op.95,2 (Friedrich Halm)
Es schauen die Blumen, op. 96,3 (Heinrich Heine)
Meerfahrt, op.96,4 (Heinrich Heine)
Auf dem Kirchhofe, op. 105,4 (Detlev von Lilincron)
Maienkätzchen, op. 107,4 (Detlev Lilincron)


Zugaben:
Wie bist Du meine Königin, op. 32,9;
Ruhe, Süßliebchen, im Schatten, op. 33,9; 
Wir wandelten, op. 36,2;
Ständchen - Der Mond steht übe dem Berge, op. 106, Nr.1
Der Mond steht über dem Berge, op. 106,1
Feldeinsamkeit, op. 86,2;

    

Aus dem Programmheft:

Einführung von Dietrich Fischer-Dieskau

 

Nicht das 19. Jahrhundert allein rubrizierte Johannes Brahms als den konservativen Hüter des deutschen musikalischen Erbes. Mit den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts trat dann eine Periode der Unentschiedenheit ein, und seit einiger Zeit scheint nun eine Ära für Brahms angebrochen; die - kaum noch zufällig - im Gedenkjahr 1983 einen Scheitelpunkt erreicht: Sein Schöpfertum, seine Menschlichkeit und seine künstlerische Größe erleben eine vitale Gegenwart.

Im Zeitalter Wagners und Liszts verkörperte Brahms für viele das gute musikalische Gewissen. Er predigte keine Fortschrittsreligion, er verbündete sich nie mit irgendwelchen Reaktionären, sondern galt als wahrhaftig und realitätsbezogen. Ein solcher Realitätssinn, der völlig unromantisch erscheint, ließ Brahms nie daran irrewerden, seinem künstlerischen Wirken seien verhältnismäßig enge Grenzen gezogen, so daß er einmal bekannte: "Wenn die Leute eine Ahnung hätten, daß sie von uns tropfenweise dasselbe kriegen, was sie bei Mozart nach Herzenslust trinken können." Aus solchen Worten spricht kein Kulturpessimismus, wohl aber eine Selbstbescheidung im Sinne von Jacob Burckhardts Ausspruch, die Naivität aller geistigen Produktion sei bedroht. Wenn Brahms von solcher geistesgeschichtlichen Spätposition her dennoch ein Werk in Angriff nahm, das erst heute seine sieghafteste Periode der Wirkung erlebt, so muß das wohl ein Triumph heißen.

Als ein Bereicherer des deutschen Klavierliedes steht Brahms im Lichte einer aus den Tiefen kommenden Volkstümlichkeit. Mittelpunkt der Lyrik bei ihm ist das Naturlied. Er erlebt und schaut die Natur nicht am Einzeleindruck haftend, er "malt" nirgends und verliert sich nicht an Stimmungen. Nicht wie bei Schumann zittert jede Welle, jedes Blatt durch die Seele des empfänglichen Musikerpoeten. Bei Brahms weitet sich der kleine Raum des Liedes zum überpersönlichen Bild der ganzen Natur. Und das kann wohl als die Aufgabe dieses Brahmsschen Geistes angesehen werden: dem Lied soll das Übermaß des Subjektiven wie des Sensitiven entzogen werden.

Die von Brahms gewählten Texte sind vielfach dem niederdeutschen Empfinden nahe und entsprechen in ihrer Traumschwere, ihrer dumpfen Erotik, ihrer Herbheit oder verschleierten Heiterkeit, seltener in ihrem Humor dem Grundklang der ihnen zukomponierten Musik. Sie stellen aber keinen unmittelbaren Zugang zur norddeutschen Art ihres Meisters dar .Denn Brahms baute seine eigene Bildungswelt um sich auf, und hier regieren neben Goethe und Schiller, die Uhland, Mörike, Kerner, Hölderlin, Hölty, Rückert, Platen, Hoffmann v. Fallersleben, Heine, Kugler.

Besser spricht man vielleicht von einer Gefühlswelt, denn der Neigung Brahms' zu seinen Dichtern scheint literarisches Interesse eigentlich zu fehlen. Die Qualität der Texte ist höchst unterschiedlich. Vielfach sind auch lediglich Gesichtspunkte der musikalischen Eignung, ja formale Gründe maßgebend, denn Brahms sah in der strophischen Vertonung die höchste aller Liedformen. Mit Bezug auf die "Ernsten Gesänge" hat er gesagt: " Tief innen im Menschen spricht und treibt oft etwas, uns fast unbewußt, und das mag wohl bisweilen als Gedicht oder Musik ertönen."

Es deutet nicht auf Resignation, wenn das vorletzte große Werk, das der schon kränkelnde Brahms herausgab, sieben Hefte Volkslieder waren, eher auf ein Glaubensbekenntnis. Mit dem Bibeltext der "Ernsten Gesänge" neigt sich der Bogen eines Lebens, das sich sein Träger sehr anders vorgestellt hatte. Das Glück, das er opferte, wurde zum Segen eines gleichbleibend qualitätvollen Werkes. In einer Zeit, in der die Nationen vieles von ihrem Eigenwesen aufgeben, um in der Welt und vor der Technologie zu bestehen, wird doch das deutsche Lied das Lied Europas bleiben, und im Verein mit Schubert und Schumann wird der Name Brahms weiter leuchten.

 

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