Schubertiade

Sonntag, 19. Juni 1983, 20.00 Uhr, Festspielhaus Bregenz

Dietrich Fischer-Dieskau  
Pianist: Hartmut Höll

Schubert-Liederabend

    Des Sängers Habe (Schlechta), D 832
Der Wanderer (F. v. Schlegel), D 649
Der Strom (unbekannt), D 565
Das Zügenglöcklein, (Seidl), D 871
Freiwilliges Versinken (Mayrhofer), D 700
Der Tod und das Mädchen, (Claudius), D 531
Die Gruppe aus dem Tartarus (Schiller), D 583
Nachtstück (Mayrhofer), D 672
Totegräbers Heimweh (Craigher), D 842

*
Der Wanderer an den Mond (Seidl), D 870
Abendstern (Mayrhofer), D 806
Selige Welten (Senn), D 743
Auf der Donau (Mayrhofer), D 553
Über Wildemann (Schulze), D 884
Der Kreuzzug (Leitner), D 932
Des Fischers Liebesglück (Leitner), D 932
An die Laute (Rochlitz), D 905
Heliopolis II (Mayrhofer), D 754
   

Aus dem Programmheft

   

Mit Schubert auf dem Podium

Von Dietrich Fischer-Dieskau

Daß sich Wort und Musik in ihm durchdrangen, machte das Wunder des romantischen Klavierliedes von Schubert bis zu Hugo Wolf möglich, einen Zweig der Gesangsmusik, der nie zuvor mit gleicher Intensität und Kraft aufgeblüht war. Nicht mehr die Regeln musikalischen Handwerks bestimmten zuvörderst die Form, sondern die Poesie. Von der "Weltseele" des Novalis bis zur nationalen Ausrichtung der Schulen im ausgehenden 19. Jahrhundert durchlief die Entwicklung eine nachträglich als fallend zu erkennende Kurve. Zunächst jedoch handelte es sich für die Musiker - vor allem in restaurativ eingeengten Völkern - um eine Revolution nach innen, eine Befreiung und Auffindung des Selbst.

In diesem Sinne hätte die letzte Fassung des Entwurfs für eine Grabinschrift am besten getaugt, die Grillparzer über Schubert so formulierte: "Er ließ die Dichtkunst tönen und reden die Musik " Die neue, kunstreiche Spezies "Lied" bedurfte einer ästhetischen Enklave, weil sie in Veranstaltungen erklang, die für Musik prädestiniert waren, in Konzerten gehobener Hausmusik. Dorthin gehörten Lieder jeder Richtung nach Inhalt und Brauch, und es unterschied sich nur in der ästhetischen Qualität, was etwa Arbeitslied, Frühlingsgedicht, Brauchtums- oder Gelegenheitslied, Kirchen- oder Reiselied war. Dieses Dazugehören aus gemeinsamer Zweckrichtung, die das Volkslied geprägt hatte, schied nunmehr aus dem Kunstprodukt aus. So singen Wilhelm Müller und Schubert in der "Schönen Müllerin" nicht mehr "zum", sondern "vom" Wandern. Es formen sich poetische Abarten von Gesangsarten, die einst im realen Dasein beheimatet waren: Wiegenlieder, Ständchen, Gebete, Trinklieder, Soldatenverse, Abschiedslieder und anderes mehr.

Diesen Rahmen mußten "Du bist die Ruh" nach Rückert, "Du liebst mich nicht" nach Platen oder "Prometheus" nach Goethe. auf eklatante Weise sprengen. Denn sie rufen den Gestalter auf dem Podium nunmehr zur Beschwörung eines durchaus fühlbaren Gegenübers auf, das noch nicht kennt, was es hören wird. Und ähnlich steht es um die Versenkung des Monologs, um den Ausdruck des Mit-sich-Seins, die Kontemplation des Einsamen - auch in der irreführenden Form der Anrede, die sich natürlich nicht an die Welt, sondern an das entrückte Ich wendet, dem vor dem Publikum sich restlos und uneitel anzuvertrauen eine schier übermächtige Forderung an den Künstler einschließt (" Warte nur" in " Wanderers Nachtlied" oder "Könnt ich klagen?" in "Im Abendroth"). Aber auch das behagliche Selbstgespräch des "Einsamen" gehört hierher. Es begegnen auch übergreifende Formen, die den Gesang (und mit ihm den Hörer) in Fernen führen, die kein Gegenüber mehr kennen --"Die Allmacht", "Dem Unendlichen", "Grenzen der Menschheit". In den Saal zurück führt wiederum der wohltuende Gegensatz einer Unterhaltung mit den Hörern, die direkte Ansprache, die entweder dramatischen Ton als Auseinandersetzung des Künstlers mit der Umwelt einbezieht ("Des Sängers Habe") oder sich mit einem Ade in "Abschied" bescheidet.

Schuberts Balladen führen dem Hörer gleich eine Vielzahl von Gestalten vor. Die balladesken Zwischenformen aus früher Zeit in "Die Bürgschaft" oder "Der Taucher" von Schiller verlangen psychologisches Einfühlungsvermögen, nicht weniger aber die Zwiegesänge, die wie "Der Tod und das Mädchen" in Vor- oder Nachspiel von anderem Hören und Erleben bestimmt sein sollten, je nachdem sie von einer Frau oder einem Mann gesungen werden. Die Wirkung eines Liedes bestand von jetzt an darin, daß es den Hörer unmittelbar in seine Stimmung hineinzog. Einer Begründung dafür enthielt es sich. Umschließt es Sinistres, so will dies als solches wiedergegeben und bewahrt sein, über eine Nur-Schönheit hinaus.

Schuberts Lieder haben bis zum Überdruß darunter leiden müssen, sie seien ja "so melodiös", und schwache Texte dürften deshalb mitleidsvoll übersehen werden. Des Komponisten Bereitwilligkeit, auf ihm vorgeschlagene Gedichte komponierend einzugehen, verweist in vielen Fällen, in denen die Anreger Freunde oder gar die Autoren waren, auf ein Austauschbedürfnis, das Schubert auf seine musikalische Mitteilungsart zu befriedigen suchte. Fast alles, was Schubert komponierte, bezieht sich ja in irgendeiner Weise auf den Freundeskreis, wurde durch ihn ausgelöst -- mit der Ausnahme der letzten Jahre.

Mit dem Niveau der Dichtung wuchs der Anspruch an die Komposition. Schuberts eruptive Expressivität durchbricht an vielen Stellen das Gewohnte und verwirrt mit ausdrucksgebundener "Prosa" den sonst doch tragenden oder kennzeichnenden Rhythmus, wie in "An Schwager Kronos" oder "Prometheus". Immer ist die hergebrachte Kantabilität damit zugleich in Gefahr. Ästhetische Konvention, wie sie sich -etwa in Goethes oder Zelters Augen - zur Selbstverständlichkeit gefestigt hatte, wurde im Schubert-Lied immer wieder auch in Frage gestellt.

Und die Grenzen, die bis dahin dem Liedstil gezogen schienen, übertritt eine Melodik, die vor unverstelltem Gefühlsausdruck keine formale Hemmung zeigt. Damit soll nicht geleugnet werden, daß Schuberts Liedkomposition überwiegend melodisch konzipiert ist. Aber die Tatsache, daß er ein äußerst sorgfältiger Textgestalter war, auch bei drittklassigen Gedichten, die es auf den ersten Blick gar nicht zu verdienen scheinen, darf nicht in der Wiedergabe verdeckt sein. Ihn führte eine Sicherheit, die der Nachgestalter nur mit Ergriffenheit nachvollziehen wird. Am Beispiel Schuberts wäre erneut an das Wachhalten des Instinkts für den Klang beim Interpreten zu erinnern, das ebenso wie für den Schauspieler oder den Operndarsteller vor allem für den Liedgestalter von Irritationen freizuhalten ist. Soviel der Künstler auch von seinem künstlerischen Handwerk wissen muß, so wenig darf das Wissen spalten, die Einheit des Eindrucks zerstören. Überwiegt Bewußtheit und herrscht sie als Zwang des ZergrübeIns vor, so kann die Natur des Gesangs darunter leiden. Es gilt immer wieder, eine aus dem Unterbewußten gekommene Welt in ihr Recht einzusetzen. Kunst muß zuletzt immer wieder Natur werden, "unwillkürlich" muß sie sein, wie Wagner seine Forderung an die Wiedergabe präzisierte.

Es ist oft vorgekommen, daß eine Abfolge von Schubert-Liedern sich den Vorwurf des zu Düsteren gefallen lassen mußte. Die Hörer erwarteten just von dieser Musik, sie solle eine Freudensklavin sein, und bemerkten nicht, wie weit die spät entwickelte Kunstmusik sich eigentlich vom reinen, unerreichbar gewordenen Ausdruck des Frohsinns entfernte. Wessen Klänge so natürlich "vor sich hin" singen, so denken Schubert-Konsumenten, der müsse doch dauerndes Wohlgefühl erzeugen. Aber in Schuberts Tönen steht immer auch die Todessehnsucht, die sich durch Klang erlöst. Sie läßt sich selbst auf der leichtest faßlichen Stufe nicht rein sinnlich genießen.

Als das Liederkonzert in Mode kam, bekämpften einige Philosophen neuerlich eine reflexive Trennung von Leib hier und Seele dort. In der Tat: Eine solche Denktrennung scheint das Wesentliche auszulassen: Im Gesang spiegelt sich exakt die Einheit von Gefühl und Vernunft - sie ist nicht durch Logik hier und Emotion da zu begreifen. Gerade im Blick auf das Singen wird deutlich: seine logische und emotionale Seite sind die durch den Verstand getrennten Elemente einer ursprünglichen Einheit musikalisch-künstlerischen Ausdrucks. Und es kräftigt den Sinn des Kunstgesangs, daß zu seinem Wesen unabdingbar Kommunikation gehört.

     

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