Ein Tschaikowsky-Recital zum sechzigsten Geburtstag von Julia Varady
Ohne Leid kein Lied

Die besseren Sänger agieren mit der Stimme wie große Schauspieler, und wenn sie auf der Opernbühne spielen, will man garantiert nicht die Augen schließen. Sie überlegen sich nicht, ob dort, an der Rampe stehend, das linke oder doch besser das rechte Bein apart vorzustellen sei beim Ablassen einer Arie; sie schielen kaum mehr verlegen nach dem Dirigenten; und sie schauen nicht gelangweilt in der Gegend herum, wenn das Gegenüber etwas von Liebe säuselt.

Die Besten verwandeln sich in Raubtiere, Elfen, rasende Furien, verzweifelt Leidende. Julia Varady gehört zu ihnen, den Sängern mit Hirn und Herz, und die Varady gehörte - denn seit drei Jahren steht sie nicht mehr auf der Bühne - zu den singenden Schauspielerinnen, die in den Opernhäusern das Publikum dahin bringen, den Atem anzuhalten. 1988 war es, in Giancarlo del Monacos Neuinszenierung von Mascagnis "Cavalleria rusticana'' an der Hamburgischen Staatsoper, da stand die Varady als Santuzza an eine Mauer gelehnt, und als sie kapierte, dass der Mann, den sie liebte, dass dieser Turridu für sie verloren war - kotzte sie; zum Herzerbarmen. Und dann sang sie ihre Szene "Voi lo sapete'' - beides so großartig, dass es unvergesslich bleibt.

In drei Tagen, am 1. September, ungalant sei es gesagt, wird die große Sängerdarstellerin sechzig Jahre alt. Zwar sagte sie der Bühne Adieu - böse Zungen lästern, ihr Ehemann, Dietrich Fischer-Dieskau, habe eifersüchtig sie zum Abschied gedrängt -, aber sie singt noch im Konzertsaal und im Aufnahmestudio. Jüngst nahm sie dort eine CD mit Arien aus Tschaikowsky-Opern auf, und das Münchner Rundfunkorchester, dirigiert von Roman Kofman, begleitete sie dabei. Allein die Briefszene aus "Eugen Onegin'', dieses "Und wär's mein Untergang'' eines jungen, verliebten Mädchens genügt: die Varady, sie bleibt eine Königin der (Klang-)Bühne.

Julia Varady singt aus Opern Peter Tschaikowskys. Orfeo C 540 011 A.

Von Götz Thieme