Süddeutsche Zeitung 2004

Sing weiter! Weiter!

Julia Varady wird endgültig zum Superstar des Plattenmarkts

Die Nachricht blieb eher unbemerkt am Ende des vergangenen Jahres: Julia Varady, die sich schon vor einigen Jahren von der Bühne zurückzog, hat nun auch ihre Konzert-Tätigkeit beendet. Damit geht eine gut vierzigjährige Karriere zu Ende, die bei vielen in vitalster Erinnerung bleiben wird. Als Ungarin in Rumänien geboren, hat Julia Varady früh erfahren, was Minderheitenstatus bedeuten kann. In Cluj (Klausenburg) ging sie auf ein Musikgymnasium, dessen rigider Ausbildung sie viel verdankt. Hatte man mit dem Abitur zugleich ein Gesangsdiplom in der Tasche, konnte man mit einer festen Anstellung an einem der Opernhäuser des Landes rechnen. So sang sie in den sechziger Jahren an der Oper von Cluj bereits ein breites Rollenspektrum, sowohl des Sopran- wie des Mezzosopranfaches, dem sie wegen ihres kräftigen tiefen Registers zunächst zugeordnet wurde.

1970 kam sie nach Frankfurt, sehr bald sang sie am Nationaltheater in München. Als Vitellia in Mozarts „Clemenza di Tito“ und als Giorgetta in Puccinis „Mantel“ entzückte sie die Vokalgourmets genauso wie die Liebhaber identifikatorisch-dramatischer Bühnengestaltung, daneben aber auch ihren Puccini-Partner Dietrich Fischer-Dieskau, den sie vier Jahre später heiratete. Unvergessen die Zusammenarbeit der beiden in Aribert Reimans „Lear“, aber auch als Arabella und Mandryka, als Figaro-Gräfin und Graf, als Eva und Hans Sachs.

In den Siebziger Jahren setzte Julia Varadys Karriere zu einem internationalen Höhenflug an, später aber beschränkte sic sich weitgehend auf Berlin und München, auf Salzburg und Wien. Ihre Elettra in Mozarts „Idomeneo“ (die Einspielung mit Karl Böhm hatte Furore gemacht) galt als Nonplusultra für einen zeitgemäßen, dramatisch durchbluteten und gleichwohl kantablen Mozart-Gesang. Während sie international noch als Mozart-Sängerin gefeiert wurde, hatte sie sich bereits zu einem jugendlich dramatischen, einem Lirico-spinto-Sopran entwickelt, dem in der Folge zwischen Lyrik und Dramatik das gesamte Sopranfach offen stand – auch bei Wagner, bei dem sie nur vor der Brünnhilde und der Isolde Halt gemacht hat.

Überblickt man ihr Bühnenrepertoire, wird einem ihre ganz ungewöhnliche Breite und Vielseitigkeit klar: bei Mozart von Fiordiligi bis Donna Anna, bei Wagner von Senta bis Sieglinde, bei Strauss von der Arabella bis zur Kaiserin in der „Frau ohne Schatten“ (nur auf CD – eine ihrer größten Leistungen – die beste überlieferte Kaiserin), bei Verdi von der zarten Desdemona bis zur machtlüstern-entfesselten Abigaille in „Nabucco“, Verdis wohl schwierigste Sopranrolle.

Diese enorme, in unserer Zeit einzigartige Breite der Rollengestaltung erinnert an große Kolleginnen der Vergangenheit: Lilli Lehmann hatte ein vergleichbares Repertoire, später wurden engere Fachgrenzen üblich. Julia Varady hat solche Grenzen weitgehend ignoriert, ohne dabei Schaden an ihrer Stimme zu nehmen. Alles was ihrer musikalischen Intelligenz und ihrem unbedingten Gestaltungswillen entgegen kam, wurde an- und in differenzierte Kunstleistung umgewandelt. Als ganz junges Mädchen sang sie bei einem Wettbewerb einmal den trostlosen Monolog der puccinischen Manon. Ergriffen durch die bewegende Musik brach sie auf dem Podium in Tränen aus, aber ihre Lehrerin rief hinauf: „Sing weiter, weiter“ – das hat sie nie vergessen.

Wenn aber im Sog der Bewegung, im Rausch der seelischen Qual oder der Freude einmal ein Auftakt zu kurz, ein Tenuto zu lang geriet, war es ihr die Sache wert, und das Publikum hat diese Fähigkeit zur energetischen Projektion von Leiden und Leidenschaft immer als etwas Besonderes empfunden.

Nicht zufällig waren es Aufnahmen von Maria Callas, die dem jungen Mädchen klar machten, was Singen bedeutet. Doch im Gegensatz zur Callas blieb ihre Stimme bis zum Ende ihrer Karriere mirakulös intakt und bewahrte den jugendlichen Klang – der kürzlich veröffentlichte Mitschnitt einer Aufführung der frühen Puccini-Oper „Edgar“ vom Dezember 2002 belegt dies nachdrücklich.

Eine beständige Klage der Verehrer Julia Varadys besagt, dass die Plattenindustrie sie sträflich vernachlässigt habe. Das ist unbestreitbar richtig und vor allem deswegen unverständlich, weil sie keineswegs jener verbreitete Typus der großen Bühnendarstellerin mit wenig phonogener Stimme war. Andererseits sind einige ihrer wichtigsten Rollen aufgezeichnet worden und auch noch im aktuellen Katalog zu finden. Unterrepräsentiert ist sie aber als Verdi-Interpetin. Da kommt die Veröffentlichung des Mitschnitts der „Trovatore“-Premiere vom Februar 1992 (bei Orfeo) aus der Bayerischen Staatsoper gerade recht. Julia Varady als Leonora und Dirigent Giuseppe Sinopoli setzten hier einen Höhepunkt in der mehr als ausgeschöpft wirkenden Diskographie des Werkes – die Zahl der Aufnahmen geht auf die 60 zu.

Das Ensemble ist nahezu ausgeglichen: der gerade in München nicht immer seinem Rang nach geschätzte walisische Tenor Dennis O’Neill muss sich hinter prominenteren Manricos nicht verstecken, Wolfgang Brendel als Luna ist nicht unbedingt ein Vertreter italienischer Baritonschulung, macht dies aber durch Stimmfülle und Vehemenz wett, die polnische Mezzosopranistin Stefania Toczyska ist eine nachdrückliche Azucena. Giuseppe Sinopoli, als Wagner-Dirigent nicht unumstritten, war bei Verdi in seinem Element.

Vor allem aber wird hier Julia Varady endlich als eine der größten Verdi-Sopranistinnen nachprüfbar etabliert. Diese Leonora ist durchaus auf der Ebene von Maria Callas und Leontyne Price, den berühmtesten Rollenvertreterinnen, anzusiedeln. Mögen die Kolleginnen in der extrem individuellen Stimmcharakteristik sich hervorheben, so bezwingt Julia Varady durch die perfektere Harmonisierung der Register; die tiefen Brusttöne der trotzigen Verzweiflung stehen ihr ebenso zu Gebote wie die jubilierenden Höhen der liebenden Entflammtheit, und das alles ist mit der Unbedingtheit, der emphatischen Radikalität gesungen, die nur den ganz großen Verdi-Interpreten gegeben ist. Wir werden Julia Varady vermissen.

JENS MALTE FISCHER

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