OPERNWELT - Plattentipps – 03.2007

Kraftvolle Jugendlichkeit

Frühe WDR-Dokumente zeigen die Anfänge des Liedsängers Dietrich Fischer-Dieskau zwischen 1952 und 1955

«Man kann das Technische, das Vokalartistische dieser prachtvoll strömenden, des pathetischen wie des zartesten Ausdrucks mächtigen Baritonstimme beschreiben, ihre Feinheit, lyrische Verinnerlichung und männliche Ausdruckskraft, ihre wunderbare Modulationsfähigkeit und vergeistigte Schlichtheit – das alles würde nicht ausreichen, die unvergleichlich tiefe Wirkung dieses eminenten Sängers zu erklären.» So schrieb ein mit dem Kürzel «E.» genannter Kritiker im März 1958 nach einem Schumann-Liederabend Dietrich Fischer-Dieskaus im Kölner Gürzenich.

Diese euphorisierte Beschreibung enthält, selbst nüchtern betrachtet, eine Reihe von Kriterien, die den Gesangsstil Fischer-Dieskaus in den fünfziger Jahren recht treffend umschreiben. Nachzuhören ist dies nun in einer Reihe von vier CDs, die zwischen 1952 und 1955 vom WDR produziert und nun erstmals dem Handel zugeführt wurden. Dass diese Aufnahmen in Köln produziert wurden, war wohl kein Zufall. Denn bereits 1950 hatte Fischer-Dieskau dort für den WDR unter Fritz Busch den Renato in Verdis «Maskenball» gesungen. Zwei Jahre später kehrte er an den Rhein zurück, diesmal um unter Richard Kraus in Pfitzners «Palestrina» mitzuwirken. Auf diese Weise war er dem damaligen Musikabteilungsleiter Karl O. Koch aufgefallen – und der animierte ihn zu einer mehrjährigen Zusammenarbeit, deren erstes Ergebnis eine Aufnahme der «Schönen Magelone» von Brahms war.

Es dürfte sich hierbei um die erste Gesamteinspielung des Werkes handeln, dessen Rezeption ohne Fischer-Dieskaus langjährigen Einsatz sicher anders, unauffälliger verlaufen wäre. Diese vom November 1952 stammende Einspielung lebt von ihrer großen Unmittelbarkeit. Die erfüllte Unruhe des sehnsüchtig Liebenden, gepaart mit kurzer, kontemplativer Zurücknahme, ist beispielsweise im fünften Lied mit einer Jugendlichkeit eingefangen, wie sie kaum jemals auf Tonträger festgehalten wurde – auch nicht von Fischer-Dieskau selbst. Verglichen etwa mit der fünf Jahre später entstandenen Aufnahme mit Jörg Demus und den beiden Mitschnitten aus Edinburgh und Salzburg – 1965 bzw. 1970 jeweils mit Sviatoslav Richter – beweist Fischer-Dieskau hier eine im besten Sinne naive erzählerische Kraft. In Liedern wie «Ruhe, Süßliebchen» stellt er seine Fähigkeiten eines genau abgestuften Piano-Gesangs unter Beweis. Mit subtilen Abtönungen erzeugt er eine poetische Atmosphäre voller Ruhe, ohne dabei zu verklären.

Nur elf Tage nach dem Brahms-Zyklus entstand eine Aufnahme von Schuberts «Winterreise», die mehr sein dürfte als nur ein dokumentarischer Brückenschlag zwischen Fischer-Dieskaus erster «Winterreise» von 1948 und der legendären ersten EMI-Einspielung mit Gerald Moore von 1955. Verglichen mit seiner ersten Studioproduktion von 1948 klingt die Stimme des Sängers hier kraftvoller, entschlossener, dramatischer, farbiger. Die «Wetterfahne» wirkt im Forte nicht nur energisch, sondern abgrundtief entrüstet, das Piano nicht so gehaucht wie in manch einer seiner späteren Aufnahmen. Die Tempi sind in einzelnen Liedern eher gemäßigt. Das gilt auch für die Formung der Silben, wodurch der Vortrag an Spannung gewinnt. Nicht einzelne Segmente geraten in den Vordergrund, sondern größere Bögen bzw. lang und überlegen geformte Steigerungen. Daher treten die jähen, oft dynamisch verstärkten Abstürze umso deutlicher hervor.

Nach zweijähriger Pause kam Fischer-Dieskau 1954 mehrfach nach Köln, um zunächst im März Schumanns Kerner-Lieder, im Herbst verschiedene Schubert-Lieder, darunter sechs Titel aus dem «Schwanengesang», und im Oktober 1955 Schumanns Eichendorff-Liederkreis aufzunehmen. Die Ergebnisse ähneln denen der bereits beschriebenen Aufnahmen: eine natürliche Einbindung der Sprache in den Gesang, eine große dynamische Spannbreite und eine souveräne, nie routinierte Umsetzung des Notentextes. Mit welcher Verve Fischer-Dieskau zu jener Zeit zu singen und zu gestalten vermochte, beweist etwa das Lied vom «Atlas», in dem die besungenen Schmerzen für den Hörer fast physisch nachvollziehbar werden. Drei Pianisten haben Dietrich Fischer-Dieskau in diesen WDR-Aufnahmen zur Seite gestanden: Hertha Klust, Günther Weißenborn und Hermann Reutter. Dass zu jener Zeit der Begriff «Begleiter» noch sehr wörtlich verstanden wurde, zeigt sich allenthalben. Dennoch: Vergleicht man Hermann Reutter in der vorliegenden «Winterreise» mit der 1948er Einspielung und Klaus Billing am Klavier, so ist Reutter der deutlich mutigere, umsichtigere Partner. Einige technische Nachlässigkeiten seines Spiels, die sich auch bei der «Schönen Magelone» nicht überhören lassen, mögen dem Ausdruck eines spontanen Zugriffs geschuldet sein.

Die vorliegenden CDs verzichten auf einen Abdruck der Liedtexte, enthalten dafür aber jeweils einen lesenswerten Einführungstext, der vor allem die Aufnahmegeschichte der einzelnen Werke treffend einzuordnen hilft. Insgesamt also eine Edition, die zeigt, welche Schätze in den Rundfunkarchiven noch schlummern. Der Begriff «historische Aufnahme» erhält so eine doppelte Bedeutung.

Christoph Vratz

zurück zu News