Was von Menschen nicht gewusst
Fischer-Dieskau auf Wünschelrutengang nach den Kraftquellen eines Künstlerlebens
Von Johannes C. Pelz

‚Konzentration' ist eines jener Schlagworte, das immer wieder fällt in Versuchen, das Bühnen-Charisma Dietrich Fischer-Dieskaus zu umschreiben: die Fähigkeit, sich geistig in einer Weise auf einen Darbietungsmoment zu sammeln, die das Publikum imaginativ gefangennimmt. ‚Konzentration', ‚Hingebung an den Augenblick' sind auch Programm und Faszinationsgrund von Fischer-Dieskaus zweitem Erinnerungsbuch. Hatte der frühere autobiographische "Nachklang" (1987) vor allem Begegnungen und Begebenheiten geschildert und ein Porträt des Autors gleichsam aus der Außensicht und (positiven) Urteilen anderer entstehen lassen, zeigt ihn "Zeit eines Lebens" als ‚Fährtensucher', der beharrlich-achtsam - in einem von Schlaglichtern des Weltruhms verdunkelten Raum - das Ent-Gangene des eigenen Werdens aufspürt.

Dass der Stoff von Memoiren zeit eines Lebens unabschließbar ist, gleicht Fischer-Dieskau, an seinen früheren Musikerbiographien zu klugem Formgefühl geschult, dadurch aus, dass er das Werk im (erzähl-)zeitlichen Rahmen eines Jahres entstanden sein lässt: es beginnt mit einem detailreich geschilderten dreifachen Knöchelbruch des Autors etwa ein Jahr vor seinem 75. Geburtstag und es schließt mit einem kritischen Ausblick auf dessen unmittelbares Bevorstehen. Innerhalb dieses Ringschlusses wird näherungsweise chronologisch erzählt, mit frei eingeflochtenen Assoziationen: Vergegenwärtigungen wichtiger Auftritte oder Porträts bedeutender Musikerkollegen (F. Fricsay, K. Richter, D. Barenboim) wechseln mit Reflexionen über die musikgeschichtliche Bedeutung von Kompositionen des 20. Jahrhunderts; bald karikiert sich der Autor selbst in einem schwerelos gelungenen Kabinettstück beim Maßnehmen für einen neuen Anzug, bald bekennt er sehr intime Kunst- und Naturerlebnisse oder beobachtet - und evoziert in kühnen Sprachbildern - Honoré Daumiers Farbgebung.

Zugrunde liegt dieser Mannigfaltigkeit eine Lebensentwicklung, die aus einer zentralen Szene und der inhaltlichen Unterteilung des Buches deutlich wird. Annähernd auf der Hälfte des Werks schildert Fischer-Dieskau eindrucksvoll ein Gewitter, das er allein auf seinem Wohnsitz am Starnberger See erlebt und dessen Lärmentfaltung er "bis in die Zähne" als schmerzhaft erleidet. Man muss nun nicht wissen, dass er einmal in einer TV-Sendung Stifters "Nachsommer" als eines der für ihn wichtigen Bücher vorstellte. Es genügt eine Kenntnis des Stifterschen Romans selbst und die Metaphorisierung, die "Zeit eines Lebens" vornimmt: "Gewitter erinnern mich an die Geschosseinschläge im Krieg und sind mir [...] deshalb ein Greuel." Hatte bei Stifter gerade das Ausbleiben eines Gewitters für eine (erzählerisch noch einmal beschworene) idealistische Harmonie gestanden, ist Fischer-Dieskaus erste Lebensphase von dem alles verheerenden Kataklysmus des Zweiten Weltkriegs geprägt: die Kindheit wird beengt von der ideologischen Stickluft in dessen Vorfeld; unmittelbar nach dem Abitur 1943 zum Militär eingezogen, gerät er an der italienischen Front in Kriegsgefangenschaft; Freiluftkonzerte in verschiedenen Gefangenenlagern werden ihm zum Ersatz für eine sängerische Erprobungszeit in der Provinz und festigen seinen Entschluss, dem erlebten Ungeist eine Künstlerexistenz entgegenzusetzen; der Heimkehrende wird beflügelt von der kulturellen Aufbruchstimmung der Nachkriegszeit - Auftakt einer kometenhaften Weltkarriere.

Die formale Zäsur des Buches, "Leben im Entwurf" versus "Leben in der Bewährung", entspricht historisch dem Erleben vieler aus Fischer-Dieskaus Generation: das letzte Datum in "Leben im Entwurf" ist 1969; andernorts wird 1968 als Moment der ‚Ratlosigkeit' und als einschneidender Beginn einer "zunehmend fremder werdenden Welt" bezeichnet. Konsequenterweise hebt der zweite Teil, "Leben in der Bewährung", nicht erzählend an, sondern mit einer ausführlichen Reflexion über die Gegenwartskultur. Dabei fallen harte Worte, etwa über das Crossover-Konzept des CD-Marktes oder die "Kostüm- und Regieeinfälle des Augenblicks", die Fischer-Dieskau als Hybris gegenüber der historischen Werkintention perhorresziert. Und so kategorisch er sich jede "Untergangsprophetie" als für Künstler ungeziemend verbietet, es herrscht ein herb pessimistischer Tenor in seinen Fragen nach der Zukunftsfähigkeit all jener Kulturbereiche, die ihn zu verschiedenen Lebensphasen - als Sänger, Maler, Rezitator oder Dirigent - beschäftigten. Allenthalben wird die Hoffnung in der Neuerungskraft der einzelnen Künstlerpersönlichkeit gesehen; so ist auch die Wendung, mit der Fischer-Dieskau sein eigenes Schaffen in sein düsteres Kulturszenario stellt, ein Gestus der Dankbarkeit: "Die Alternative lautet: Auflösung und Ende oder weitergehen, und ich durfte noch immer letzteres tun."

Dem illusionslosen Blick in der kulturhistorischen Bewertung entspricht die Schonungslosigkeit, mit der sich Fischer-Dieskau selbst charakterisiert: für die Kindheit werden die "Eßsucht" des "babyhaft aussehenden [...] Jungen", Selbstmordgedanken und In-Sich-Brüten ebenso thematisiert wie erste erotische Erfahrungen und fehlschlagende Versuche sexueller Aufklärung. Misserfolge in der Schule (etwa Blamagen im ‚braunen' Zentralfach Sport, für das der Junge privaten Nachhilfeunterricht nehmen muss) bereiten einer lebenslang zu bewältigenden Versagensfurcht den Boden: "Aus Abneigung vor Menschenansammlungen und manchmal aus wirklicher Angst um mein schulisches Fortbestehen wurde mir bisweilen sogar übel [...] in unaufhörlicher Angst vor Enttarnung meiner eingebildeten Unfähigkeit [...]." Auch die Euphorie in den Strahlen des einsetzenden Ruhms gewinnt erzählerisch weniger Raum als ein Schicksalsschlag: Fischer-Dieskaus erste Frau, während der Kriegszeit seine Verlobte, stirbt 1963 im Kindbett des dritten Sohnes. Die hierauf folgende Einsamkeit (und der Analysewille in bezug auf deren Bewältigung) prägen das Erinnern nachhaltiger als zahllose applaudierende Säle in aller Welt. Da wird von einem über-gedrängten Terminkalender gesprochen, von menschlichen Versäumnissen und ‚Verzicht auf normale Formen des Glücks'. Nur Arbeit stillt den manischen Betätigungshunger: "Nie hat ein Triumph wirklich befriedigt, eher versetzte er mich in Verlegenheit oder eine leichte, nachbohrende Trauer." So bedeutet "Leben in der Bewährung" vor allem, inmitten der Wertumwälzungen nach 1968 dem eigenen Dafürhalten treu zu bleiben und erlangten Ruhm weiterwirkend stets neu zu rechtfertigen, ohne dabei den Wagemut zur Erweiterung des eigenen künstlerischen Horizonts und Repertoires zu verlieren. Die Früchte des Ruhms scheinen bitter: unerwünschte Zudringlichkeiten weiblicher Fans und vor allem - Kritik. Angesichts der Unbeirrbarkeit, mit der sich Fischer-Dieskau solcher Kritik spartenüberschreitend aussetzte, überrascht die harsche Eloquenz, mit der er jetzt ihre verletzende Wirkung offenlegt. In der Selbstdistanz der Retrospektive: "Fassungslos [...] stellte ich eines Tages fest, dass ich unversehens zu denen gehörte, die sich unverstanden fühlen." Sogar von einer "Art Verfolgungswahn" ist die Rede.

Gegen diese Negativa steht und wirkt vor allem die wichtigste Lichtgestalt des Buches: Fischer-Dieskaus Ehefrau Julia Varady. "Das dauerhafte Vergnügen, das ich mit dieser Frau empfinde, widersteht auch dem Missmut und der mich aufhaltenden Unfreude, die mich manchmal heimsuchen." Dass sie ihm auch "in der Kunst eine unschätzbare Partnerin ist", durchzieht das Buch als freudvoll abgewandeltes Motiv: dem Dirigenten Fischer-Dieskau bietet ihr 'glühendes Sich-Einbringen einen erwünschten musikalischen Widerpart'; inspiriert von der Namenskoinzidenz mit E. T. A. Hoffmanns jugendlicher Muse, beschreibt er sie als Cordelia in Reimanns "Lear" wie eine der fragilen, sich zu Tode verströmenden romantischen Sängerinnenfiguren.

"[Bei jeder neuen Aufgabe] wusste ich, dass ich eigentlich nur lebte, um nachzuvollziehen, was schon längst von anderen niedergelegt ist." Dem entsprechend erkennt sich auch der Erzähler von "Zeit eines Lebens" immer wieder in literarischen Zitaten, v. a. von Goethe oder Nietzsche. Aber nachdem nun das romantische Originalitätspostulat heute mehr als fragwürdig geworden ist, lautet das programmatische Credo der gesamten Kunsttheorie der letzten drei Jahrzehnte: ‚aus individueller Traditions-Aneignung Neues schaffen' - wie es gerade Fischer-Dieskau lebend einlöste. Wäre auch sein schreibend-erinnernder Nachvollzug dieses Lebens aus dem Bestreben entstanden, den hagiographischen oder latent gehässigen Elogen des ‚Jubeljahres' herausfordernd die eigene Stimme entgegenzusetzen - hervorgegangen ist daraus ein bewegendes und verstörendes Dokument, das die Wahrnehmung dieser Künstlerexistenz in Zukunft prägen und jede Ehrung von fremder Seite überleben wird. Der Autor selbst hat inzwischen, an Werken von B. A. Zimmermann oder Schönberg mitwirkend, seinem Erinnern neuen Stoff hinzugefügt. "Darstellung hieß mein Lebensdiktat, durch alle Ängste hindurch." Zeit seines Lebens wird er diesen Satz wohl treffender im Präsens formulieren.

 

Dietrich Fischer-Dieskau: Zeit eines Lebens. Auf Fährtensuche.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2000.
255 Seiten, 39,80 DM (20,30 EUR).
ISBN 3-421-05368-5

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