Gewaltige Lebensleistung

 Er dürfte der Sänger sein, von dem die meisten Tondokumente überhaupt vorliegen: Dietrich Fischer-Dieskau. Gerade rechtzeitig zu seinem 75. Geburtstag hat Monika Wolf eine beeindruckende Hommage an diesen musikalischen Enzyklopädisten vorgelegt: ein vollständiges Verzeichnis aller von ihm existierenden Tonaufnahmen, nicht nur der offiziell veröffentlichten, kommerziellen, auch der Radio- und Fernsehsendungen sowie sämtlicher Live-Mitschnitte, jene inklusive, die sich in Privathand befinden. Das stattliche Ergebnis von mehr als 30 Jahren Sammeltätigkeit: eine "Dieskaugraphie" mit 4840 Einträgen, die 539 Buchseiten füllen. Und doch ist die Auflistung nicht komplett, sondern ein "work in progress", ist der Nimmermüde doch nach wie vor als Dirigent, Rezitator und Lehrer aktiv. Auch dürfte durchaus noch älteres Material des Sängers Fischer-Dieskau zu erwarten sein, da längst noch nicht alle Rundfunk- und Opernarchive ihre Schätze zugänglich gemacht oder veröffentlicht haben.
Unterzieht man nun diese gewaltige künstlerische Hinterlassenschaft einer näheren Prüfung, dann rückt natürlich der Sänger, zumal der Liedinterpret Fischer-Dieskau unübersehbar und dominierend in den Vordergrund. Ab 1968 etwa erreichten die Aktivitäten des Baritons auf diesem musikalischen Feld ihren Höhepunkt: es entstanden Gesamtaufnahmen sämtlicher Werke für Männerstimme von Franz Schubert, in summa 405 Einzeltitel, die Zyklen nicht mitgerechnet, zusätzlich Duette, Terzette und Quartette für Singstimme. Des weiteren widmete sich Fischer-Dieskau dem kompletten Liedschaffen von Johannes Brahms, Robert Schumann, Hugo Wolf, Ludwig von Beethoven und Gustav Mahler, unter Beteiligung wechselnder Klavierbegleiter. Seine erste Lied-, ja Schallplattenaufnahme überhaupt war Schuberts Winterreise, die 1948 mit dem Pianisten Klaus Billing festgehalten wurde. Zwischen 1948 und 1991, der letzten Auseinandersetzung Fischer-Dieskaus mit diesem Zyklus (mit Hartmut Höll am Klavier), ist sein Ringen um eine gültige Interpretation der Winterreise nicht weniger als 32mal doku-

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mentiert, mit elf verschiedenen Pianisten (Hartmut Reutter, Gerald Moore, Hertha Klust, Jörg Demus, Daniel Barenboim, Norman Shetler, Alfred Brendel, Murray Perahia). Allein 15 Liederabende der Salzburger Festspiele liegen aus der Zeit zwischen 1956-1979 als Live-Mitschnitte vor.

Dirigent, Rezitator, Lehrer

Aber auch der Opernsänger Fischer-Dieskau kann sich hören lassen: seit der ersten kompletten Opernaufnahme - zugleich sein Bühnendebüt als Posa in Giuseppe Verdis Don Carlos an der Städtischen Oper Berlin unter Ferenc Fricsay 1948 ? hat der Bariton in 203 Gesamtaufnahmen von 79 verschiedenen Opern mitgewirkt. Die zuletzt entstandene vollständige Operneinspielung war Hector Berlioz' La damnation de Faust unter Charles Dutoit, eine konzertante Aufführung an der Deutschen Oper Berlin 1992. Von weiteren 23 Rollen liegen Auszüge oder Querschnitte mit Fischer-Dieskau vor. Die Karriere des Dirigenten Fischer-Dieskau setzte im Februar 1973 ein, als er auf Wunsch des EMI-Produzenten Suvi Raj Grubb für den erkrankten Otto Klemperer einsprang und mit dem New York Philharmonia Orchestra Franz Schuberts fünfte und achte Sinfonie einspielte. Seitdem entwickelte sich neben den Gesangsauftritten eine rege Dirigiertätigkeit, die 1976 vorläufig zu Ende ging, mit Aufnahmen der vierten Sinfonie von Brahms und von Berlioz' Harold in Italien mit der Tschechischen Philharmonie. Das Nebeneinander von Singen und Dirigieren stellte eine zu große physische Belastung dar. Erst nach der Beendigung seiner Sängerlaufbahn 1993 nahm Fischer-Dieskau den Dirigentenstabwieder auf und leitete seitdem überwiegend CD-Produktionen mit seiner Frau Julia Varady.
Die Geburtsstunde des Rezitators Fischer-Dieskau schlug bereits 1957, als er neben der Darbietung des Gesangsparts (mit

Monika Wolf: Dietrich Fischer-Dieskau. Verzeichnis der Tonaufnahmen.Verlag Hans Schneider, Tutzing. 2000
ISBN 3 7952 0999 4 539 Seiten, DM 92,--

Jörg Demus am Klavier), von Johannes Brahms' Die schöne Magelone auch den Text der Novelle von Ludwig Tieck las. 1961 "rahmte" er seine Aufnahme von Schuberts Schöner Müllerin (mit Gerald Moore als Pianist) durch den gesprochenen Prolog und Epilog ein. 1964 nahm er das Melodram Enoch Arden von Richard Strauss mit dem Klavierbegleiter Jörg Demus auf. Seit 1993 trat Fischer?Dieskau regelmäßig mit Rezitationsabenden und Lesungen auf. Auf CD erschienen unter anderem Texte von E.T.A. Hoffmann, eine Sammlung von Gedichten zur Weihnachtszeit Nacht heller als der Tag, Ein Gespräch in Briefen zwischen Goethe und Zelter (mit Gert Westphal). Ein einmaliger Fall blieb bis heute Fischer-Dieskaus Fernseh-Auftritt als Schauspieler; auf Wunsch des Regisseurs
Peter Beauvais übernahm er 1981 in der Verfilmung von Kleists Das Käthchen von Heilbronn die Rolle des Kaisers.

Die DG ehrte Fischer-Dieskau mit einer Edition, die 20 CDs plus Bonus-CD umfasst (DG 463 500 2)

Fischer-Dieskaus Tätigkeit als Gesangspädago-
ge ist im Fernsehen umfangreich dokumentiert; viele seiner Meisterklassen in Berlin, bei der Schubertiade in Feldkirch, in Stuttgart etc. sind vom Sender Freies Berlin oder vom japanischen Fernsehen festgehalten worden.
Mit all dem sind aber nur die wichtigsten
Teilaspekte des auf Universalität zielenden
Künstlers Dietrich Fischer-Dieskau abgedeckt.
Neben dem Sänger, Dirigenten, Rezitator und
Musikpädagogen gibt es noch weitere
Tätigkeitsfelder, die in Monika Wolfs Bestandsaufnahme nicht vorkommen (können): die Schriftstellerei - der Autor arbeitet inzwischen an seinem 15. Buch, das zum 100. Todestag von Hugo Wolf im Jahr 2003 erscheinen soll. Und schließlich ist da noch die Malerei: seine letzte Ausstellung präsentierte der Maler Fischer-Dieskau im Juni/Juli 2000 in der Potsdamer Galerie Dietz.


Kurt Malisch