Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. Februar 2003
Sein Leben in h-Moll
Dietrich Fischer-Dieskau porträtiert tonvoll Hugo Wolf
Dietrich Fischer-Dieskau hat für seine Hugo-Wolf-Monographie die Meßlatte
selber sehr hoch gelegt. Im Vorwort zu Kurt Honolkas Wolf-Buch (1988)
hieß es: "Sich beschreibend auf Hugo Wolf einzulassen, birgt mancherlei
Risiken in sich. Denn zu seiner Lebenszeit und mit seiner Lebensleistung
sind wir längst aus jenem Raum vertrieben, in dem sich, Mozarts oder
Schubert Verfahren ähnlich, Werk an Werk in sicherer Folge reihen konnte."
Nun läßt sich durchaus rätseln, was "Mozarts oder Schuberts Verfahren"
war, und ob sie wirklich "Werk an Werk in sicherer Folge reihen" konnten.
Aber daß Wolf ein schwieriges, riskantes Thema ist, sei unbestritten.
Fischer-Dieskau, zum Ende seiner Sängerkarriere mehr und mehr zum Buchautor
geworden, hat sich nach Schubert, Schumann und Debussy nun zum hundertsten
Todestag Hugo Wolfs auch diesem Komponisten zugewandt und aufs neue
den Brückenschlag zwischen Empathie und Akribie versucht. Daß Fischer-Dieskau
für die Wolf-Rezeption Eminentes geleistet hat, steht außer Frage. Gehörten
Schubert, Schumann und Brahms schon zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts
international zum Standard-Repertoire, so bedurfte es seiner - und Elisabeth
Schwarzkopfs - Autorität, um reine Wolf-Programme auch in England, Frankreich
und Amerika "durchzusetzen". Fischer-Dieskaus immense Vertrautheit mit
Wolf und seine fast missionarische Begeisterungsfähigkeit tragen denn
auch das Buch in nicht geringem Maße.
Doch ähnlich wie bei Debussy möchte der Autor nicht im Subjektivismus
verharren, sondern ein richtig "gediegenes" Werk vorlegen, künstlerisch
spontane Einfühlung durch historiographische Objektivierung in schier
exemplarische Abstraktion überhöhen. Dazu gehört auch die traditionell
obligate Aufteilung in "Leben" und "Werk". Wobei Fischer-Dieskau immerhin
so weit die Trennung aufhebt, daß sich das Werk auf die "großen Liedfolgen"
beschränkt, während d-Moll-Quartett, die symphonische Dichtung "Penthesilea"
und die Oper "Der Corregidor" in die biographische Darstellung verwoben
werden.
Dies erscheint sinnvoll, weil sowohl die autobiographisch- psychologisierenden
als auch die lebenskatastrophischen Aspekte dieser drei Werke mehr von
der empirischen Person des Komponisten verraten als die stärker objektivierten
Lied-Zyklen. Aufschlußreich ist da Fischer- Dieskaus Anmerkung, der
"Penthesilea"-Geschlechterkampf würde sublimer in den Mann-Frau-Antagonismen
im "Spanischen" wie "Italienischen Liederbuch" fortgeführt. Wo der Autor
sich auf ästhetische Fragen konzentriert, vermag er zu überzeugen.
Heikler ist die chronologische Darstellung, bei der sich Fischer-Dieskau
nicht wenig in der Detail-Auffädelung erschöpft. So beeindruckend wie
auch ermüdend werden Lebensstationen und -umstände geschildert. Zwar
kann er dabei erstmals auf den Nachlaß Walter Legges zurückgreifen,
doch neuartige Erkenntnisse kann er ihm nicht abgewinnen. Und immer,
wenn er triftigere Ansichten entwickeln könnte, führt ihn die Angst
vor der eigenen Courage in die Sicherheit des Zettelkastens zurück.
In der Beschreibung der großen Lied-Zyklen beeindruckt Fischer-Dieskaus
enthusiastische Kennerschaft, die gleichwohl mittlere Distanz hält,
kaum wirklich analytisch vorgeht, trotzdem seltsam im toten Winkel steckt:
Warum er sich so für die Kritiker-Malträtierung in Mörikes "Abschied"
erwärmen kann, bleibt unerfindlich. In Einleitung wie Abschluß findet
sich ein kulturpessimistischer Ton: Ausgerechnet der große Sänger, der
so viele grandiose Novitäten bewegend lanciert hat, bezweifelt, daß
nach Wolf noch ernst zu nehmende Lieder komponiert worden seien.
Man hätte dem Buch eine schärferes Lektorat gewünscht. Formulierungen
wie "Grenzgebiet, in dem sich deutsches und slowenisches Blut mischten",
liest man nicht ohne Beklemmung. Nicht selten findet sich auch der "hohe"
Ton des deutschen Bildungsbürgertums, dem Fischer-Dieskau entstammt.
Dem wiederum entsprechen Bürokratismen wie "führte ich zahlreiche Wolf-Abende
durch": Kleinigkeiten, die die Qualitäten dieses von erheblicher Identifikationsbereitschaft
getragenen Buchs trüben.
GERHARD R. KOCH Alle Rechte vorbehalten. (c) F.A.Z. GmbH, Frankfurt
am Main
Die Welt vom 22.02.03
Schläft ein Lied in kleinen Dingen
Er wird wieder keiner von uns werden: Zum 100. Todestag
des lange verkannten Komponisten Hugo Wolf
Zu deutsch. Zu querständig. Zu schwierig. Auch zum heutigen 100. Todestag
wird es, während Deutschland anderen Superstars hinterher hechelt, keine
echte Anstrengungen mehr geben, ihn zu einem von uns zu machen. Warum
auch? Hugo Wolf, Meister der kleinen Form, Innovator, für viele Vollender,
der intimen, so konzentrationsfordernden, deshalb so lange nachhallenden
Kunst des Lieds, deren schönste Beiträge von Deutschen und Österreichern,
von Schubert, Schumann, Brahms, Mahler, Strauss komponiert wurden, er
wollte akzeptiert werden, bewundert auch, aber mit der Breitenwirkung,
wie sie sein Hausgott Richard Wagner erfuhr, hat er nicht wirklich gerechnet.
Was ihn, den nur 1,54 Meter großen Autodidakten aus kleinsten steiermärkischen
Verhältnissen, nicht daran hinderte, gegen alle Konformisten zu toben.
Der Neid, sehr deutsch.
Hugo Wolf, am 13. März 1860 im heute slowenischen Windischgrätz geboren,
ist kaum über seinen bereits vom 15-Jährigen erwählten Wiener Lebensraum
hinausgekommen. Ein freiwilliges Exil nach Innen, auch den kaum beschreib-,
geschweige denn vorstellbaren Verhältnissen geschuldet, in denen ein
„freier“ Künstler, noch dazu ein wenig erfolgreicher, seine Existenz
in der bürgerlichen Boomtown fristete. Mit dem Studienkollegen Gustav
Mahler hat er zeitweise sogar ein Bett geteilt; später hat man sich
im Streit entzweit, als der umstrittene, aber als Operndirektor wie
als Saisonkomponist reüssierende Mahler Wolfs Oper „Der Corregidor“
nicht zur Aufführung annehmen wollte.
Hugo Wolf hat sich alles selbst vermasselt. Schüler hat er weg gejagt,
Frauen in die Flucht geschlagen, Gönner düpiert. Und sich zudem mit
18 Jahren bei den nicht nur süßen Mädeln in der berüchtigten „Lehmgruben“
die Syphilis geholt. Das verkauzt misogyne, vom antisemitischen Grundton
der Zeit durchaus infizierte Genie, nur seiner selbst gesuchten Sendung
folgend, himmelhoch jauchzend im Funkenflug göttlicher Inspiration,
zu Tode betrübt in (häufigeren) Phasen der Depression, schließlich vom
Wahnsinn der Geschlechtskrankheit zerfressen seine letzten fünf Jahre
bis zum Ehrengrab auf dem Zentralfriedhof im Irrenhaus verbringend –
eine Figur wie aus einem Roman. Kein Wunder, dass sich bei diesem komponierenden
Schmerzensmann auch Thomas Mann bediente, als er seinen von der Hetäre
Esmeralda infizierten Adrian Leverkühn zum „Doktor Faustus“ meißelte.
Und doch entzücken bei Hugo Wolf die längst sprichwörtlich gewordenen
„kleinen Dingen“ – lässt man sich auf die immens dichte Form ein, die
kaum trennbare Einheit von Wort und Ton, wo nicht Melodik, noch Harmonik,
weder Rhythmus noch Bedeutungsgehalt autonom regieren, sondern alles
im ungeheuer fortschrittlichen Einen. Wobei Wolf Zeitgenossen inspirierten.
Gut, 44 bzw. 46 Gedichte und Nachdichtungen von Heyse und Geibel formte
er zu seinen berühmtesten Zyklen, den gar nicht so viel südliche Glut
atmenden Spanischen und Italienischen Liederbüchern. Dem stehen die
zu großen Teilen in dem Schaffensrausch der Jahre 1888 bis 1892 herausgeschleuderten
Lied-Gruppen nach Mörike, Goethe, Eichendorff, Lenau, Keller, Heine
und der frösteln machende Schwanengesang der Michelangelo-Gesänge gegenüber.
Was also bleibt? Neben einem Streichquartett und der sinfonischen Dichtung
„Penthesilea“ dieses mehr als 300-fache Ringen um die Form als Gesamtkunstwerk
in seiner kleinsten Liedzelle. Ein tönendes Erbe gestrenger Wolf-Anverwandlungen
für so überdisziplinierte Sänger wie Elisabeth Schwarzkopf und Dietrich
Fischer-Dieskau, wie sie jetzt in einer EMI-Box (5 62188 2) zusammengefasst
wurden. Auch die für die Wolf-Rezeption so wichtige Sammlung von Interpretationen
der Hugo Wolf Society, die Walter Legge 1931 bis 1938 besorgte, ist
zum Glück noch lieferbar (EMI 566640 2 9).
Zum 100. Todestag hat Dietrich Fischer-Dieskau ein sehr schönes, warmherziges
Buch über den von ihm Hochgeschätzten verfasst („Hugo Wolf. Leben und
Werk“. Henschel, Berlin. 560 S., 40 Euro). Darin heißt es untypisch
gefühlvoll: „Ich möchte auf die Bedeutung eines wieder dem Gedächtnis
entschwundenen Werkes und zugleich auf die Leiden eines Menschen hindeuten,
dessen Leben ein einziger Weg des Opfers war, des Opfers um der Sache,
um der Kunst willen.“ Sehr deutsch, auch das.
Manuel Brug
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