1. Juni 2007, Neue Zürcher Zeitung

Der junge Fischer-Dieskau

Liedaufnahmen der fünfziger Jahre

Dietrich Fischer-Dieskau zählt zu den wenigen Sängerinnen und Sängern, von denen die Schallplattenfirmen beinahe jeden aufgezeichneten Ton, dessen sie habhaft werden können, zu veröffentlichen trachten. Dieser Tendenz zum Enzyklopädischen entspricht im Fall Fischer-Dieskaus das Profil des Künstlers selber. Seine Aufnahmetätigkeit wies stupende Dimensionen auf - man denke nur an das im sängerischen Alleingang riskierte Unterfangen, alle Schubert-Lieder für Männerstimme einzuspielen. Von der «Winterreise» sind, so hat man eruiert, zehn offizielle Aufnahmen mit Fischer-Dieskau herausgekommen, während etwa zwei Dutzend weitere sich in Privathand befinden oder in Rundfunkarchiven schlummern.

Stimmwandel

Eben dort - genauer: beim WDR - hat das Label Audite gegraben. Das Ergebnis sind vier Compact Discs, die Lieder von Franz Schubert (darunter die «Winterreise» und Ausschnitte aus dem «Schwanengesang»), Johannes Brahms («Die schöne Magelone») und Robert Schumann («Kerner-Lieder» und «Liederkreis» op. 39) in Interpretationen aus den Jahren 1952 bis 1955 enthalten.

Von früher Reife ist in der Literatur über den jungen Fischer-Dieskau immer wieder zu lesen, so auch in einem der Beiträge, die Kurt Malisch für die CD-Booklets verfasst hat. Frühe Reife? Träfe der Begriff zu, dann könnte man sich auf das Anhören jeweils einer einzigen Aufnahme eines Lieds beschränken - es käme nicht sonderlich darauf an, ob sie in der Früh- oder Spätzeit des sängerischen Wirkens entstanden wäre. Indes haben sich die Stimme und mit ihr auch die interpretatorischen Prägungen, die Fischer-Dieskau dem von ihm gesungenen Liedgut verlieh, im Laufe der über vier Jahrzehnte währenden Karriere beträchtlich gewandelt.

Der junge Fischer-Dieskau verfügte - das machen die Neuerscheinungen deutlich - über einen Bariton von aussergewöhnlicher Klangschönheit. Diese beruht nicht zuletzt auf einer im Vergleich zu späteren Zeiten grösseren Homogenität der Tonbildung - da gibt es nur selten die Neigung, in dramatischeren Passagen den vokalen Kern so sehr zu exponieren, dass das Singen rau wirkt, und auch die Aufhellungen, die zunehmend über eine fahler gewordene vokale Physiognomie hinwegtäuschen sollten, wirken hier noch gut eingebunden in das stimmliche Gesamtbild.

Wohllaut

Mit anderen Worten: Fischer-Dieskau bietet - mehr noch als für die Aufnahmen von 1955 gilt das für jene aus dem Jahr 1952 - genug Wohllaut, dass selbst jene, die seinem Singen eher skeptisch begegnen, gerne zu den vier neuen Silberscheiben greifen dürften. Mit welchem Sinn für Kantabilität vermittelt er etwa das Vorwärtsdrängende in «Sind es Schmerzen, sind es Freuden» aus der «Schönen Magelone»! Die in dieser Edition vertretenen Pianisten sind ausdrucksmässig zurückhaltender als die ganz Grossen ihrer Zunft, lassen verstärkt die Musik einfach für sich sprechen - und das hebt den vokalen Glanz zusätzlich hervor. Frühe Meisterschaft also bestimmt die Eindrücke, zumal Fischer-Dieskau die Texte differenziert ausleuchtet und alle seine interpretatorischen Markenzeichen - ein die Phrasen liebkosendes Piano, feine Dosierung der Lautstärkegrade, nuancierte Klangfarben - bereits sein Eigen nennen kann.

Thomas Baltensweiler

Franz Schubert: Die Winterreise (1952). Dietrich Fischer-Dieskau (Bariton), Hermann Reutter (Klavier). Audite 95.580 (1 CD).

Johannes Brahms: Die schöne Magelone (1952). Dietrich Fischer-Dieskau (Bariton), Hermann Reutter / Günther Weissenborn (Klavier). Audite 95.581 (1 CD).

Franz Schubert: Lieder Collection (1954). Dietrich Fischer-Dieskau (Bariton), Günther Weissenborn / Hertha Klust (Klavier). Audite 95.583 (1 CD).

Robert Schumann: Kerner-Lieder/Liederkreis op. 39 (1954/ 1955). Dietrich Fischer-Dieskau; Hertha Klust / Günther Weissenborn, Klavier. Audite 95.582 (1 CD).

Diesen Artikel finden Sie auf NZZ Online unter: http://www.nzz.ch/2007/06/01/fe/articleEYYEW.html Copyright © Neue Zürcher Zeitung AG

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