Konzerthaus Berlin, 14., 15. und 16. Dezember 2002
Dietrich Fischer-Dieskau dirigiert das Berliner Sinfonie-Orchester, Solist Konstantin Lifschitz
Brahms, 2. Klavierkonzert / 4. Sinfonie

 

Berliner Tagesspiegel online 16.12.2002

Auf den Flügeln des Gesangs

Das Konzert mit dem Berliner Sinfonie-Orchester hat dazu beigetragen, dass aus der Legende Dietrich Fischer-Dieskau wieder Gegenwart geworden ist. Naturgemäß sind der Hans Sachs, der Graf Almaviva und der König Lear aus der Bühnenwirklichkeit seiner Darstellung in die Erinnerung gerückt, sind die Abenteuer des Schubert-Sängers auf Platten eingefroren.

Plötzlich aber entpuppt sich Dietrich Fischer-Dieskau als ein Dirigent, der, immer ein Lernender, zunehmend erworben hat, wie die Vorstellung von Musik in die Tat umzusetzen ist. Die süße Not, sich in der Musik auszudrücken, braucht Technik. Die steht seinem Ausdruckswillen als eine erstaunliche Neuigkeit zu Diensten. Mit einem reinen Brahms-Programm trifft er im Konzerthaus auf ein hochmotiviertes Orchester und auf den ukrainischen Klavierpoeten Konstantin Lifschitz. Wenn Musiker beim Konzertieren alle Aufmerksamkeit einander zuwenden, entstehen Momente der Innenspannung, die sich dem Geben und Nehmen verdanken.

Fischer-Dieskau hat in der Blütezeit seines Singens 1973 mit dem öffentlichen Dirigieren begonnen, nachdem er Rat und Hilfe von Harold Byrns genossen hatte, einem Maestro aus der Schönberg-Schule. Damals hat die Musikkritik, die der raren Ereignisse habhaft werden konnte, ihm Mut gemacht. Und doch fühlt er bald die Notwendigkeit, "mein Dirigieren zu Grabe zu tragen". Die Pause dauert fast zwei Jahrzehnte. In der Heimatstadt Berlin ist ihm das Dirigentenglück nicht hold. Die Enttäuschung klingt in seinen Erinnerungen "Zeit eines Lebens / Auf Fährtensuche" an (erschienen zum 75. Geburtstag 2000). Es ist ein Herbstbuch des Künstlers, das einen gewissen Kulturpessimismus einschließt, Beklommenheit, das Erleben des Alterns, das Gefühl, von Gegnern umstellt zu sein. Hier schreibt einer, der es sich niemals leicht gemacht hat. Warum schätzen wir den Maler Fischer-Dieskau? Weil er mit dem Musiker korrespondiert.

Dass Fischer-Dieskau mehr über Johannes Brahms weiß als die meisten, steht außer Frage. Hier stimmt die Atmosphäre zwischen ihm und dem Orchester. Mag es diesem Glücksfall zu verdanken sein, dass die Interpretation ihm zuzufliegen scheint.

Wie er das Hornsolo zu Beginn des zweiten Klavierkonzerts auf Händen trägt, wie er von den heroischen Akzenten ins Lyrische gleitet, wie ein Tempo in Übereinstimmung mit dem sensiblen Virtuosen Konstantin Lifschitz steht, wie dolce und grazioso umgesetzt werden und der Dirigent dem Pianisten das Tempo abnimmt, wie die Gefühlsintensität der Romantik sich modernem Ton verbindet, das heißt eine Furtwängler-Nachfolge ins Heute versetzt. In der weich einschwingenden vierten Symphonie erhält die Gesangslinie, die in aller romantischen Musik lebt, atmende Dominanz, die Bläsersolisten sehen sich von einem Dirigenten unterstützt, der ihre Phrasierungen kennt.

Die zeitgenössischen Werke, die der Uraufführungssänger Fischer-Dieskau auf den Weg gebracht hat, sind Legion. Heute empfindet er ein "gesteigertes Verlangen, die Tradition wiederzugewinnen". Als ob sie ihm nicht immer zur Verfügung gestanden hätte! Der Maestro Dietrich Fischer-Dieskau soll willkommen sein. Seine Gestik hat sich zu einer schönen Beredtheit entwickelt, die linke Hand modelliert den Klang. Zwar liegt die Partitur auf dem Pult, aber Musiker und Publikum spüren, dass der vorausdenkende Dirigent sie Note für Note im Kopf hat. Und in der Präzision der Pizzikatos zeigt sich, was das Orchester von dem Meister am Pult hält.

Sybill Mahlke


Berliner Zeitung 16.12.2002

Der hört auf's Wort

Dietrich Fischer-Dieskau dirigierte das BSO

Jan Brachmann

Danach befragt, was er denn einem Orchester als Dirigent Besonderes vermitteln könne, antwortete Dietrich Fischer-Dieskau vor sechs Jahren in einem Interview: "Atmen können, zum Beispiel. Alle Musik muss sprechen in irgendeiner Form. Es wäre zu wünschen, dass man auf dem Atem musiziert, mit dem Atem." Das ist nun so ziemlich genau das, was man als Antwort erwartet, wenn man einem erfahrenen Sänger eine solche Frage stellt. Doch so formelhaft die Rede vom Atem und vom Sprechen oft daherkommt, so entscheidend vermag ihre praktische Umsetzung das Musizieren zu verändern, wie man am Sonnabend im Konzerthaus hören konnte, als Dietrich Fischer-Dieskau das Berliner Sinfonie-Orchester bei einem reinen Brahms-Programm (2. Klavierkonzert, 4. Symphonie) dirigierte.

Sprachhaft ist die traditionelle Kunstmusik Europas auf zweierlei Weise: Zum einen wirkt die Sprache als Ordnung musikalisch formbildend, als Gliederungssystem, geprägt durch Grammatik, Syntax und Reimschemata. Zum andern lieferte die Sprache als Sprechakt zahllose Vorbilder für Gesten des musikalischen Ausdrucks. Fischer-Dieskau, der fast alle der gut 200 Sololieder von Brahms mehrfach gesungen hat, weiß natürlich in besonderer Weise um den akribischen Wortgehorsam dieses Komponisten, bei dessen Textvertonungen geradezu jedes Detail der sprachlichen Form musikalische Konsequenzen zeitigte. Und Fischer-Dieskau hat als Dirigent auch die großen Instrumentalwerke, das 2. Klavierkonzert und die 4. Symphonie, wesentlich von ihrer Sprachhaftigkeit her begriffen. Das bedeutete vor allem für die Gestaltung von Artikulation, Phrasierung und Dynamik eine Sorgfalt, auch eine Eindringlichkeit, wie sie nur selten zu erleben sind.

Nur ein Beispiel: Im Hauptthema des Kopfsatzes der 4. Symphonie sind ab dem vierten Takt jeweils zwei Noten mit einem abnehmenden Lautstärkeakzent zu spielen, die zwei folgenden einfach nur leise, akzentlos. Fischer-Dieskau wusste diese Vorschrift genau mit einer Haltung zu verbinden; und so entstand der Gestus des zweifelnden Mit-Sich-Selbst-Redens und zögernden Abwägens.

Im 2. Klavierkonzert hingegen spielt der reine Klang als Faszinosum, als Beschwörung einer vorsprachlichen Einheit aller Dinge (in gut romantischer Denktradition) eine zumindest ebenso große Rolle wie die sprachgezeugte Architektur. In der Interpretation von Fischer-Dieskau und dem erst 26-jährigen Pianisten Konstantin Lifschitz kam nun diese klangmagische Seite (sie ist zwar selten bei Brahms, aber in diesem Stück auch eindrucksvoll) zu kurz. Verblüffend blieb die Leichtigkeit, mit der Lifschitz die Akkordmassen des Klavierparts bewältigte, unter denen viele Pianisten (auch etwas angeberisch) ächzen wie ägyptische Sklaven beim Pyramidenbau. Und Lifschitz' asketischer Pedalgebrauch muss geradezu beschämend auf die Pfuscher in seiner Zunft wirken.

So mag sich an diesem Abend vielleicht nicht das Außerordentliche ereignet haben, aber doch das außerordentlich Ordentliche - und das, schön war's zu sehen, bei vollem Haus.


Berliner Morgenpost 16.12.2002

Auf tausend Wegen zur Vollkommenheit

Dietrich Fischer-Dieskau dirigiert das BSO

Dietrich Fischer-Dieskau ist längst eine Denkmalsfigur der Musik in Berlin und weltweit darüber hinaus. Gerade erst hat man ihn in Tokio mit dem «Praemium Imperiale» ausgezeichnet, dem Nobel-Preis der Musik sozusagen. Er hat sich seinen Bewunderern in immer neuen Verwandlungen vorgestellt; die Vielzahl seiner Bücher hat Aufsehen erregt, er ist als Rezitator und Pädagoge hervorgetreten. Er malt. Er dirigiert, wie jetzt wieder im Konzerthaus, ein schwergewichtiges Brahms-Programm.

Das Berliner Sinfonie-Orchester spielte unter seiner Leitung. Am Flügel: der junge Konstantin Lifschitz mit dem herausfordernden 2. Klavierkonzert. Er war damit allerdings vielleicht etwas überfordert. Mit 27 bieten sich einem Pianisten im Grunde andere Konzerte an. Dabei ist Lifschitz ein durchaus bravouröser Klavierspieler. Die Finger allein machen das Glück dieses gewaltigen Konzerts aber nicht aus. Es schien mitunter, als suche Lipschitz es sich auf den schwarzweißen Tasten zusammen. Er fand gewissermaßen noch keinen eigenen Reim auf Brahms, und Fischer-Dieskau war ihm bei aller Sorgfalt auch keine große Hilfe dabei.

Er ist seit seinen Tagen als einzigartiger Liedersänger ein Mann der Nuancen: einer ziselierenden Kunst, der musikalischen Feinschrift, der Pointierung, der Kürze. Nun aber schwamm er auf den hohen Wellen der Brahms-Sinfonik und schäumte sie überdies auch noch nachhaltig auf. Die Großform des Werkes geriet ihm darüber ins Abseits. Er vermochte seinem Solisten keinen verbindlichen Gestaltungsweg zu weisen. Er entfesselte gern das Orchester, das unter der geballten Herausforderung immer wieder grobianisch wirkte. Das enorme, viersätzige B-Dur-Klavierkonzert baute sich auf zu einem Viel-Fronten-Krieg, aus dem Brahms nicht unbedingt als Gewinner hervorging.

Eindeutiger trug Fischer-Dieskau die 4. Brahms-Sinfonie vor. Aber auch hier erwies sich seine Spiritualität nie recht auf das Ganze gerichtet. Er fischte aus dem sinfonischen Fluss mit Vorliebe wundervolle Details heraus, verfiel dann aber wiederholt der Gleichgültigkeit, auch einem plakativen Ausdrucksdrang: den Knalleffekten der sinfonischen Vollmundigkeit.

Die machten natürlich Furore. Das BSO legte sich mächtig ins Zeug und türmte seine Sprache bis zur Lauthalsigkeit auf. Das machte Eindruck, auch wenn es gelegentlich auch hier grobianisch zuging. Noch immer ist Fischer-Dieskau das, was er von Anfang war: ein genialischer Einzelgänger, unermüdlich auf tausend Wegen zur Vollkommenheit. Er verdient mehr als Beifall. Er verdient Respekt.

Klaus Geitel