Zu den Konzerten am 7./ 8./ 9. September 1992 in Berlin


    

     Berliner Morgenpost, 9. September 1992     

Daniel Barenboims ausgesprochen gelungener Einstand mit der Berliner Staatskapelle

Auch ein Maestro der Moderne

    

Alles bestens. Der Einstand Daniel Barenboims als neuer Generalmusikdirektor an der Lindenoper war rundherum gelungen. Das mit großer Spannung erwartete Ereignis wurde tatsächlich eines. Man konnte mit dem neuen Chef des Opernhausorchesters höchst zufrieden sein und dieser mit dem Publikum. Es bedachte ihn am Schluß mit einem Riesenapplaus, der sich bis in die Nähe zur Ovation steigerte.

Ein Musiker der Staatskapelle überreichte Barenboim einen großen Blumenstrauß, aus dem dieser eine Blume an den ersten Mann der ersten Violingruppe weiterreichte. Eine Geste, die unverkennbar demonstrierte, wie glänzend die Musiker und ihr neuer Chef miteinander auskommen, was erwartungsvoll stimmt für die Zukunft.

Karel Husa kam extra aus den USA

Wer auch zufrieden sein konnte an diesem Abend, war Karel Husa. Er war extra aus den USA angereist gekommen, um die Aufführung seines Stückes "Musik für Prag 1968" mitzuerleben. Dem aus Prag stammenden, jetzt in den USA lebenden 71jährigen, damit schon einer der Senioren der tschechischen Avantgarde von heute, wurde lebhaft und herzlich zugeklatscht. Seine Komposition fand einhellig großen Anklang. Daß Barenboim sie mit in das Programm genommen hatte, hing nicht allein damit zusammen, daß sie haargenau zum Festwochen-Thema paßte. Er wollte damit offensichtlich auch zeigen, daß ihm die zeitgenössische Musik genauso am Herzen liegt wie die des klassischen und romantischen Repertoires.

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Fischer-Dieskau sang Dvorák auf tschechisch

Ebenfalls für eine Überraschung sorgte Dietrich Fischer-Dieskau. Man weiß von ihm, daß er in vielen fremden Sprachen zu singen vermag, daß ihm auch tschechisch ganz mühelos von den Lippen geht, verblüffte.

"Die biblischen Lieder" von Dvorák einmal nicht in der deutschen Übersetzung, sondern in der Originalsprache geboten - das bedeutete einen ganz besonderen Reiz. Von seinem ursprünglich bloß mit Klavierbegleitung versehenen Zyklus hat Dvorák fünf Lieder orchestriert. Vilem Famanek hat später die restlichen fünf instrumentiert.

Fischer-Dieskau hätte ruhig den Zyklus in kompletter Form singen sollen, dann hätte man seinen Vortrag dieser anrührenden, von tiefer Religiosität geprägten Gesänge noch ausführlicher genießen können. Mit der nach wie vor unendlich reich erscheinenden Skala seiner stimmlichen und gestalterischen Nuancen gelang es Fischer-Dieskau, das Auditorium zu andächtiger Konzentration zu zwingen und gefangenzunehmen.

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Wolfgang Schultze


      

     Der Tagesspiegel, Berlin, ?? September 1992     

Angst, Schönheit, Hoffnung

Daniel Barenboim und die Staatskapelle Berlin

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Sein Amt als Künstlerischer Leiter der Deutschen Staatsoper hat mit dieser Spielzeit der israelische Musiker Daniel Barenboim angetreten, der das Berliner Philharmonische Orchester 1990 zu dessen erster Israel-Tournee in sein Land geführt beziehungsweise seiner Wesensart gemäß eher "begleitet" hat. Am Dirigentenpult der Staatskapelle wird er kaum vergessen, daß zu seinen großen Vorgängern Erich Kleiber und Otto Klemperer gehörten, die sich 1933/34 von Deutschland und der Lindenoper trennten beziehungsweise scheiden mußten.

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Solist des Abends ist Dietrich Fischer-Dieskau, der erste deutsche Musiker, der vor über zwanzig Jahren eine große Israel-Tournee unternahm, mit dem in jeder Beziehung sensiblen Gebilde des deutschen Liedes.

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Die fünf orchestrierten "Biblischen Lieder" Antonín Dvoráks singt Dietrich Fischer-Dieskau, der einmal selbst eine deutsche Fassung erarbeitet hat, hier in der Originalsprache und ihre schlichte, inständige Schönheit in die Herzen der Zuhörer. Es ist eine eher betende als predigende Musik, den Psalmen abgelauschter slawischer Melodienreichtum, niedergeschrieben, als den Komponisten in New York die Nachrichten vom Tod Tschaikowskys und Hans von Bülows 1893/94 erreichten und der Vater Dvoráks im Sterben lag. Fischer-Dieskau bringt die emotionale Gewißheit nahe, wie trotzdem ein "neues Lied" gesungen wird.

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Sybill Mahlke


       

     Berliner Zeitung, 9. September 1992     

Ausgewogenheit dominierte

Konzert der Staatskapelle unter Barenboim in der Staatsoper

    

Der Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in die CSSR, der den "Prager Frühling" gewaltsam beendete, ist für die Menschen der Tschechoslowakei bis heute ein Trauma. Karel Husa, seit 1959 amerikanischer Staatsbürger, widmete seine "Musik für Prag 1968" diesem Thema. Die Staatskapelle unter Daniel Barenboim setzte sie an den Beginn ihres Konzerts in der Deutschen Staatsoper. Das knapp halbstündige Werk macht Effekt. Brutale Fanfarenstöße kündigen das drohende Unheil schon gleich zu Beginn an. Später werden die langgezogenen Melodien der Streicher von einem Marschrhythmus auf der Rührtrommel immer stärker in den Hintergrund gedrängt. Die musikalischen Mittel, die Husa verwendet, lassen allerdings an propagandistischer Plattheit nichts aus.

Wesentlich verhaltener ging es danach bei Dietrich Fischer-Dieskau mit Antonin Dvoráks Biblischen Liedern op. 99 zu. Die Orchesterlieder gehören zu jenen zahlreichen Werken Dvoráks, die ganz auf überschäumendes böhmisches Temperament verzichten. Die fünf Lieder, Bearbeitungen aus einem Zyklus von zehn Klavierliedern, sind dunkel eingefärbt, und auch Fischer-Dieskaus Interpretation wirkte zunächst recht spröde, vertraute eher auf die Kraft der Deklamation und fand erst im vierten Lied zu einem wärmeren Ton.

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Rainer Pöllmann


   

     Potsdamer Neueste Nachrichten, 17. September 1992     

Verinnerlichte Liedinterpretation

Dietrich Fischer-Dieskau in der Deutschen Oper Berlin und in der Deutschen Staatsoper Berlin

     

Dietrich Fischer-Dieskau hat ganz kurz hintereinander zwei Veranstaltungen während der Berliner Festwochen bestritten, eine als Solo-Matinee und die andere im zweiten Konzert der Staatskapelle Berlin. Fischer-Dieskau ist seit über vierzig Jahren ein Sänger der Superlative. Aus allen Bereichen der Musikgeschichte existieren von dem bedeutenden Bariton, der längst eine Legende ist, Schallplattenaufnahmen, darunter Gesamtaufnahmen der Lieder von Beethoven, Schubert, Schumann, Brahms, Strauss, Wolf.

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Biblische Lieder

Im zweiten Sinfoniekonzert der Staatskapelle Berlin sang Dietrich Fischer-Dieskau in der Deutschen Staatsoper Unter den Linden fünf Biblische Lieder op. 99 von Antonin Dvorak in der Originalsprache. Der tschechische Komponist hat sie zunächst 1894 als Klavierfassung vorgelegt, doch erklangen sie zwei Jahre später in Prag als Orchesterbearbeitung.

Nicht das unbeschwerte böhmische Musikantentum kommt in diesen Liedern zum Tragen, sondern die stille gläubige Gewißheit, daß, wie es im vierten Lied heißt: "Gott der Herr ist Hirte mir, ich werde niemals Mangel leiden."

Dietrich Fischer-Dieskau hat besonders dieses Lied in seiner innigen und lichten Schönheit vollendet gesungen. Am Dirigentenpult stand Daniel Barenboim. Er verfügt über jene Emotionalität und Klangphantasie, die auch diese Lieder von Dvorak im Handumdrehen in Musik verwandeln.

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Klaus Büstrin

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