Zum Liederabend am 27. Juli 1992 in München


  

     Süddeutsche Zeitung, 30. Juli 1992     

Triumph und Todesnähe

Dietrich Fischer-Dieskau mit Schubert im Nationaltheater

     

Ovationen ohne Ende, sieben Zugaben – gewiß ein glanzvoller Liederabend. Und dennoch, als der Flügel am Schluß unter der Fülle der Blumen schier versank, da mischte sich doch ein Hauch von Tristesse in des Sängers Triumph. Denn Dietrich Fischer-Dieskau hatte sein Schubertprogramm im Rahmen der Opernfestspiele dermaßen mit Klängen von Einsamkeit und Todeslust, von Nacht und Vergänglichkeit, von Gram und Herzeleid durchsetzt, daß umflorte Gedanken nur schwer zu verdrängen waren. Gewissermaßen einen eigenen Zyklus hatte Fischer-Dieskau da aus Liedern der letzten zwölf Lebensjahre des Komponisten zusammengestellt und als geistige Wanderung durch die düsteren Regionen der Schubertschen Seelenlandschaft konzipiert.

Schuberts Finsternis offenbart sich hier freilich nicht so sehr in gewaltiger Tragik und erschütternden Peripetien. Es sind vielmehr die Selbstverständlichkeit der Todesnähe, nicht nur in "Totengräbers Heimweh", das Nebeneinander von Diesseitsglück und Jenseitsahnung selbst in der zartesten Liebesidylle, die Schuberts Grundstimmung ausmachen. Ein Lebensgefühl also, das einer ständigen Gratwanderung am Rande des Abgrunds gleichkommt und dessen vollkommene darstellerische Bewältigung wohl nur einem Künstler gelingen kann, der sich Wort für Wort, Takt für Takt auf solche Ambivalenz, auf solches Changieren der Ausdruckswerte einläßt.

Fischer-Dieskau treibt nun dieses Verfahren ins Extrem. Da heißt es beispielsweise in "Der Wanderer" nach Friedrich von Schlegel ganz schlicht: "Steige mutig, singe heiter, / Und die Welt erscheint mir gut." Schubert freilich traut solcher Heiterkeit nicht recht, kontrastiert den Text mit weit weniger munteren Tönen – und Fischer-Dieskau raubt ihnen mit einer stark verinnerlichenden Klangschattierung den letzten Rest von vermeintlichem Frohsinn. "Froh umgeben, doch alleine", lautet der Schlußvers: bei Fischer-Dieskau ein grandios dimensionierter Stimmungsumschwung.

Es ist wohl ein müßiges Spiel für Belcanto-Fetischisten, die wenigen Stellen zu zählen, wo Fischer-Dieskaus Stimme nicht nur den reinen Wohllaut produziert. Denn bisweilen riskiert er geradezu den Ausbruch aus der Ästhetik des schönen Klanges als Gestaltungsmittel, wagt abweisende vokale Grautöne ebenso wie Momente von herbem Sprechgesang – um schließlich desto balsamischer von Tränen und Gräbern romantisch zu schwärmen ("Die Sterne"). Und wenn er in Seidls "Zügenglöcklein" (einer "Totenglocken"-Meditation) die Wendung ins Tröstlich-Religiöse nimmt, um gleich darauf den "Kreuzzug" als introvertierte Absage an das Leben zu deuten – dann ist Fischer-Dieskau noch immer der kühnste und zugleich stilbewußteste Interpret in den expressiven Grenzbereichen des Kunstlieds.

Ein Ausdrucksbesessener also, der bei den Zugaben scheinbar mühelos von herrischer Dramatik ("Heliopolis") zu launiger Pointiertheit wechselt: Ein solcher Sänger bedarf eines besonderen Begleiters. Zugegeben – Hartmut Höll ist gewiß nicht der brillanteste Pianist unter den heutigen Begleitern von Weltrang; aber er bringt ein derartiges Maß an Textsensibilität in sein Spiel ein, weiß sich dermaßen einfühlsam mit Fischer-Dieskaus rhetorisch freiem Vortragsgestus abzustimmen wie kaum ein zweiter. Seit zehn Jahren ist er Fischer-Dieskaus beständiger Partner – und damit ein Teil von dessen singulärer Kunst.

Klaus Bennert

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     Abendzeitung, München, 29. Juli 1992     

Verdichtete Seelenzustände

Staatsoper: Fischer-Dieskau sang Schubert

    

Noch immer bilden Liederabende von Dietrich Fischer-Dieskau, der mittlerweile das 67. Lebensjahr erreicht hat, Zentren im internationalen Festspielumtrieb. Der angekündigte Brahms-Zyklus "Die schöne Magelone" mußte wegen Erkrankung des Begleiters abgesagt werden, statt dessen gab es Lieder von Franz Schubert. Am Flügel: Hartmut Höll (Nationaltheater).

Ein Schubert-Abend, der sich nicht mit der Abfolge beliebter und bekannter Gesänge begnügte, dessen programmatischer Aufbau vielmehr zyklische Geschlossenheit suggerierte. Fischer-Dieskaus Liedprogramme zielen ja bekanntlich nie auf vordergründige Effekte ab, wollen nicht goutiert, sondern geistig mitvollzogen werden.

Der Gang durch innere Seelenzustände des Menschen, durch Trauer und Hoffnung, Todessehnsucht und verklärtes Glück fand denn auch in einer Sphäre der Verinnerlichung und künstlerischen Dichte statt.

Mit dem Wissen um die stimmlichen Möglichkeiten hatte sich Fischer-Dieskau nie auf Waghalsiges eingelassen, überschritt seinen Expansionsradius nur ein einziges Mal bei dem Schulze-Gedicht "Auf der Bruck". Alles übrige gelang ihm mit einer Geschlossenheit und sängerischen Disziplin von hohen Graden. Die düstere Beklommenheit von "Totengräbers Heimweh", sorgenfreie Lebenslust der "Fischerweise" oder zerbrechlich-zarte Hoffnungsschimmer in "Die Sterne" lassen sich kaum eindringlicher darstellen, als es Fischer-Dieskau – in kongenialer Partner- schaft mit Hartmut Höll – an diesem Abend gelang. Frenetischer Beifall und Zugaben über Zugaben.

Rüdiger Schwarz

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     tz, München, 29. Juli 1992     

Mühe nur mit den Blumen

Liederabend Fischer-Dieskau

    

"Nur in Stichworten noch einmal, was schon hunderte Male geschrieben und wohl noch nie bezweifelt wurde: Der exzeptionelle Rang Fischer-Dieskaus als Liedsänger, die schier unglaubliche Skala seiner Nuancen. Er setzt das Publikum einem Niveau der Kunst aus, dem es in dieser einsamen Höhe nur bei ihm begegnen kann." Bilanz eines Festpiel-Liederabends von Dietrich Fischer-Dieskau – geschrieben 1967 von Helmut Schmidt-Garre ...

Jetzt, fast auf den Tag genau 25 Jahre später, füllt der große Liedgestalter (inzwischen 67) noch immer mühelos das Nationaltheater mit seinen Getreuen, suchen Japaner und Amerikaner in Scharen auf der Maximilianstraße nach Karten, um "ihn" zu erleben.

Daß Fischer-Dieskau wegen des Ausfalls von Begleiter Murray Perahia statt der "Schönen Magelone" ein Schubert-Programm sang (mit dem kongenialen Hartmut Höll am Flügel), spielte dabei keine Rolle – er wäre vermutlich auch mit Kinderliedern gefeiert worden.

Was tut’s, daß die Stimme nicht mehr in allen Lagen gleich anspricht, daß manche nur noch "hingehauchte" Endsilbe der für einen Liederabend problematischen Akustik des Opernhauses zum Opfer zu fallen drohte – entscheidend ist bei Fischer-Dieskau nach wie vor die spezielle Art, in der er auch eher banale Texte ausdeutet und gestaltet. Wobei ihm diesmal die unbeschwert-vergnügten und die dramatischen Gesänge (etwa die Ballade vom "Zwerg") noch überzeugender gelangen als die elegischen Töne.

Nach einer halben Stunde bejubelter Zugaben hatten Sänger und Pianist einige Mühe, die zugereichten Blumensträuße auf einmal von der Bühne zu schleppen ...

H. Stegmann


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