Zur Liedermatinee am 22. September 1991 in Berlin


    

     Der Tagesspiegel, Berlin, 24. September 1991     

Immer wieder neu

Eine Schubert-Matinee mit Fischer-Dieskau und Höll

     

Man könnte sagen, "Die schöne Müllerin" ist der doppelbödigere der beiden Liederzyklen Schuberts. Der strophische Aufbau und Volksliedcharakter der meisten Lieder steht im Kontrast zu Stimmungsgehalt und tragischem Verlauf der Gedichtnovelle – anders als in der "Winterreise", wo die romantische Seelenpein der Texte in Schuberts Tonsprache ihr genaues Gegenstück gefunden hat.

Deshalb wird die "Müllerin" meist idyllischer gesungen und gehört, als sie gemeint ist. Deshalb klingt das Wandern meist lauter als das Weinen.

Wohlgemerkt meistens. Denn Dietrich Fischer-Dieskau, der mit dem Zyklus seinen zweiten Festwochen-Auftritt 1991 in der Deutschen Oper bestritt, sieht das anders. Für ihn ist das Strophische kein Signal für egalisierten Ausdruck, der Volksliedton keine Legitimation für heimelige Kaminfeuerromantik.

Im Gegenteil: Seine unvergleichliche Arbeit mit dem Wort und mit seinem Klang macht begreiflich, daß Schuberts Musik ohne Rest den Gehalt jeder, wirklich jeder Gedichtstrophe auslotet, wenn nur der Sänger seinen Tonfall jeweils individuell ausrichtet. Der Kontrast zwischen Text und Musik bleibt dabei zwar bestehen, Widersprüche aber stellen sich nicht ein.

Fischer-Dieskaus "Müllerin" ist heute, wo das Gewicht noch mehr als früher auf der Textebene liegt, unruhiger, innerlicher, psychologischer denn je. Nichts von der Gelassenheit des erfahrenen Sängers, dem es genügte, sich selbst zu kopieren, über die (ihm sehr bewußten) Grenzen seiner Stimme hinwegzusingen, statt kreativ mit ihren aktuellen Möglichkeiten zu arbeiten. Fischer-Dieskaus Schubert ist heute wie damals ein Urerlebnis, immer ungewohnt, immer um wesentliche Denkanstöße bereichert.

Und wieder war es Hartmut Höll, der ein Gutteil der stehenden Ovationen am Ende einer beeindruckenden Matinee auf sich beziehen durfte. Hölls Spiel, das pianistisch glänzend und gestalterisch verantwortlich zwischen Unterordnung, Gleichgewicht und Eigenwert vermittelt, darf gegenwärtig als ein Gipfel der Liedbegleitung gelten.

An seiner nun beinahe zehnjährigen Allianz mit Fischer-Dieskau sind beide Interpreten gewachsen.

Roman Hinke

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     Berliner Morgenpost, 24. September 1991     

Fischer-Dieskaus Liaison mit der schönen Müllerin

   

Dietrich Fischer-Dieskau ist in diesem Herbst ganz auf Franz Schubert eingestellt. Mit dem Meister des romantischen Klavierliedes ist er per du wie kaum ein anderer Sänger. Sein Buch "Auf den Spuren der Schubert-Lieder" ist längst zum Standardwerk geworden. Während Fischer-Dieskau sich an seinem ersten Festwochen-Abend ausgewählte Schubert-Lieder vorgenommen hatte, widmete er sich im zweiten Konzert in der Deutschen Oper dem Zyklus "Die schöne Müllerin".

Die 20 Lieder auf Texte von Wilhelm Müller stecken voller Finessen und Ausdruckswechsel, bilden einen ganzen Kosmos der Liebesgefühle. Fischer-Dieskau, der Meister der Nuance, kann seine einzigartig hohe Kunst der farbigen Liedgestaltung hier voll einsetzen. Er lockt und fleht, jubiliert, poltert übermütig, versinkt in tiefste Resignation, zieht den Hörer in den Bann der unglücklichen Liebesgeschichte und macht sie von vorn bis hinten glaubhaft.

Dabei darf man nicht überhören, welch großen Anteil der vorzügliche Klavierbegleiter Hartmut Höll an dem Zauber des Vortrags hat. Er geht mit höchstem Feingefühl auf jede Stimmungsschwankung ein. Mit spitzen, drängenden Fingern meißelt er die "Ungeduld" in die Tasten. Im "Tränenregen" läßt er die Totenglocken schon anklingen. In "Danksagung an den Bach" hält er wundersam unirdische Zwiesprache mit dem Sänger. Und immer wieder läßt er den Bach in ständig neuen Schattierungen fließen, rauschen, plätschern.

Aus der weiten Farbenpracht des Vortrags leuchten doch am meisten die ruhigen Passagen hervorl Es sind die leisen Lieder, in denen Fischer-Dieskau seine Magie, die hypnotische Kraft seiner Stimme ganz entfaltet. Er kann unendliche Melancholie heraufbeschwören, ohne je auf die Tränendrüse zu drücken. Im zart schillernden Pianissimo liegen die größten Wunder dieser schmiegsamen Baritonstimme. Das Publikum dankte den Künstlern wie immer mit ausdauernden Ovationen.

Martina Helmig

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     Spandauer Volksblatt, 25. September 1991     

Töne der Trauer und Gebrochenheit

Dietrich Fischer-Dieskau mit Franz Schubert in der Deutschen Oper

Gidon Kremer im Kammermusiksaal

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Man merkt nicht gleich, wenn man den beiden Zyklen erstmals begegnet, daß "Die schöne Müllerin" noch tragischer endet als die "Winterreise". Der Wanderer findet am Ende doch einen vagen Halt an der Kunst und als Gefährte des Leiermanns. Dem Müllerburschen jedoch, der aus seiner Liebesillusion stürzt, bleibt nichts als der Weg in den Tod.

Es gehört zu Fischer-Dieskaus überragenden Fähigkeiten (er sang den Zyklus in einer Matinee der Deutschen Oper), dies hinter der idyllischen Außenseite vieler Lieder bewußt zu machen, ohne verfremdendem oder übertreibendem Pathos zu verfallen.

Wenn er das Rauschen des Bächleins als Nixengesang beschwört ("Wohin?") oder überhaupt den Bach als gefährlich lockenden Gegenspieler ("Tränenregen"), dann ist Naturdämonie so unheimlich anwesend wie im "Lindenbaum".

Ebenso eindringlich die Ahnung des Unheils. Das "Vorspiel neuer Lieder" ("Pause") ist schon als Vorspiel neuer Leiden zu verstehen. In "Die liebe Farbe" findet Fischer-Dieskau wahre Mahler-Töne der Trauer und Gebrochenheit.

In der Kunst der Differenzierung (in die er sich wiederum mit Hartmut Höll am Klavier teilte) übertrifft ihn niemand. Und er neigt nicht zu Konzessionen.

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Hans-Jörg von Jena

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