Zum Liederabend am 17. September 1991 in Berlin


    

     Berliner Morgenpost, 19. September 1991     

Dietrich Fischer-Dieskaus Marathon des Leisegesangs

     

Im ersten seiner alljährlich von seinem Publikum geradezu sehnsüchtig erwarteten Festwochen-Liederabende in der ausverkauften Deutschen Oper sang Dietrich Fischer-Dieskau nichts als Schubert; und in einem 2. Konzert (am 22. September) wird er an derselben Stelle ein Gleiches tun.

Dann steht der Zyklus von der "Schönen Müllerin" auf dem Programm. Schon jetzt darf man sich darauf spitzen. Fischer-Dieskau ist der Wundersänger geblieben, als der er vor über 40 Jahren seine Singkarriere begann. Er singt zum Erstaunen.

Ein Festival des Pianissimo. Ein Marathon des Leisegesangs. Fischer-Dieskaus Stimme ist nach wie vor der feinsten Nuancen, der zartesten Inflektionen fähig, und er kostete sie in seinem weltschmerzlichen Programm auf die wirklich und wahrhaftig unerhörteste Weise. Er sang geradezu, leise klagend, am Grabe des Biedermeier dahin.

Lied um Lied segelte in stillem und allerstillstem Gedenken hinab in die Grube der Kunst. Vor allem der erste Programmteil trieb aufs feinschmeckerischste immer wieder die Wehmut auf die interpretatorische Spitze. Dazu übte sich Hartmut Höll, der Begleitvirtuose am Klavier in äußerster, feinsinnigster Diskretion.

Ein Liederabend wie auf Zehenspitzen. Dem Publikum verschlug es bis zum Schlußjubel beinahe das Atmen. Aber selbst noch in den Zugabereigen klang der Ton der Weltabgeschiedenheit, des Lebensabschieds, des Farewell auf durchaus anrührende und aufs kunstreichste gemeisterte Weise hinein. Dietrich Fischer-Dieskau ist mit seiner verlockenden Stimmflöte der Rattenfänger des Liedes geblieben, selbst wenn er es nun vorzieht, auf dem letzten Loch zu blasen. Er ist in seiner schmelzend durchnuancierten Tongebung tatsächlich so etwas wie der Horowitz des Liedgesanges geworden. Er ist einzigartig; und dies hoffentlich noch lange.

Mit Schuberts "An Schwager Kronos", Goethes lyrischem Sturm und Drang-Gepolter, begann Fischer-Dieskau pathetisch hochfahrend und eher stimmrumpelnd sein Programm. Doch mit Schlegels "Der Wanderer" und Mayrhofers "Freiwilliges Versinken" begann der Zyklus der immer stärker verinnerlichten Gesänge, und "Totengräbers Heimwehe" sang Fischer-Dieskau schon wie ein rechter Schmerzensmann der Musik.

Dabei drückt Fischer-Dieskau nie auf die Ausdrucksvaleurs. Er hält die Stimme leicht zum Entzücken. In der "Fischer-Weise" plätscherte sie buchstäblich "durch den Himmel, der sich im Wasser baut".

Wunder über Wunder des Vortrags. "Der "Kreuzzug" führt den "Münich" in seiner Klosterzelle selbst im Stillstand "in das gelobte Land", in das Fischer-Dieskau sich immer tiefer hineinsang. "Des Fischers Liebesglück" trieb die Singkultur auf einsame Höhe, und aus der "Heil’gen Nacht" (in Collins "Nacht und Träume") machte Fischer-Dieskau beinahe schon einen "Heil’gen Abend".

Einen heil’gen Liederabend, versteht sich.

Klaus Geitel

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     Der Tagesspiegel Berlin, 19. September 1991     

Die Sterne

Fischer-Dieskau in der Oper

    

In der zweiten von sechs Zugaben sang Dietrich Fischer-Dieskau in der Deutschen Oper das Schubert-Lied "Der Einsame" auf einen Text von Carl Lappe. Geschildert wird in diesem behaglichen Abendlied ein wahrscheinlich älterer Mann, der sich am "spät erwärmten Herd" über das Zirpen der Heimchen freut, ohne deren Gesellschaft er in seiner Klause ganz verlassen wäre. "So leicht und unbeschwert", wie das klingt, so hübsch mit biedermeierlichem Humor, ein bißchen Spitzweg dabei, nimmt Fischer-Dieskau das Idyll aber in der Interpretation nicht allein. Denn die Brechungen, die dem Klang mitgegeben werden, bringen das bekannte Humorstück den ernsten Liedern näher, den Wanderern, Winterreisenden, Totengräbern: das Thema heißt Einsamkeit. Aus Zeitzeugnissen ist zu lesen und aus der Musik zu hören, daß Schuberts Geselligkeit von Aspekten der Sehnsucht geprägt war.

Der erste von zwei Schubert-Abenden, die Fischer-Dieskau zusammen mit dem Pianisten Hartmut Höll den Festwochen beigibt, traditionell sein Auftritt im Berliner Herbst, zeigte den Sänger in Hochform. Damit kann nicht allein der Bariton gemeint sein, weil die interpretatorische Dimension hier immer alles Stimmliche einfaßt. In "Nacht und Träume", vom Klavier ausdrucksvoll sekundiert, ist der lange Atem dafür typisch. Ein Konzert der überwiegend stillen Nachtmusiken, gelegentlich ins Heitere kontrastiert.

Die Dominanz von Mond und Sternen, das blasse oder milde Licht, die Friedhofsromantik gehen davon aus, daß das Naturgefühl, die Poesie um Wald und See und Grab, wie es der Germanist Richard Alewyn formuliert hat, "einem ererbten Grauen abgerungen worden waren". Die Tiefe, die daraus entsteht, klingt im "Wanderer" (D 649), in "Wehmut", "Totengräbers Heimweh", "Des Fischers Liebesglück" oder "Des Sängers Habe" zwischen Tönen und Worten wider. Bei Fischer-Dieskau wird dies Gegenwart.

Die Dramaturgie der Zugaben, die es kaum bei Schillers Griechenlied "Schöne Welt, wo bist du?" bewenden lassen konnte, wandte sich zum Schluß dem Rellstab-Lied "Ade! Du muntre, du fröhliche Stadt" zu. Natürlich verstand das Publikum die Anspielung, aber die Eintrübungen des "Abschieds" blieben ihm auch im Ohr.

Sybill Mahlke

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     Spandauer Volksblatt,  19. September 1991

Liederabend Dietrich Fischer-Dieskau in der Deutschen Oper Berlin

Der Altmeister bot "Bekenntnisse"

   

Allmählich wächst er in die Rolle des Altmeisters. Und nach wie vor tut er unendlich viel für das Lied. Bei seinem Schubert-Abend in der Deutschen Oper griff Dietrich Fischer-Dieskau in die überreiche Schatzkiste des immer noch kaum Bekannten, des jedenfalls Nicht-Gängigen.

Es waren Künstlerbekenntnisse, die er zusammengestellt hatte (und bei denen er auf "Du holde Kunst" oder den berühmten "Musensohn" diesmal verzichtete), und zudem Todesvorahnungen. Diese Aspekte konnten auch zusammengehen: in "Des Sängers Habe" dient die Zither als Grabstein.

"Schaff das Tagwerk meiner Hände" (Goethes "Hoffnung", die sich Nietzsche zu eigen gemacht hat) ließ in ihrer poetischen Nüchternheit beinahe einen neuen Schubert entdecken. Auf gleicher Linie hob der Sänger das "Froh umgeben, doch allein" hervor: Die Situation ist ihm kein Quell romantischen Wehs, sondern notwendige Folge der "Wanderer"-Existenz.

Je visionärer der Tod geschildert wird, um so tiefer greift Fischer-Dieskaus Interpretationskunst. "Freiwilliges Versinken" konnte man trotz (oder wegen?) des widersprüchlichen "Ich scheide herrlich, naht die Nacht" noch als kauzige Eigenart des Helios auffassen. Aber die Monotonie des "Zügenglöckleins", das fiebrige Todeserlebnis von "Totengräbers Heimweh" gewann eine geradezu unheimliche Eindringlichkeit, ehe Fischer-Dieskau mit dem feierlichen "Die Sterne" den Schlußstrich zog (unter den er freilich noch sechs Zugaben setzte).

Wenig Platz blieb diesmal für humoristische Wirkungen. Balladenhaftes ("Der Zwerg") kam nur als Intermezzo vor. Da der Künstler Fischer-Dieskau alles Stimmliche der Radikalität des Ausdrucks wie eh und je unterordnete, war der zweimalige heftige Auftakt ("An Schwager Kronos", "Auf der Bruck") textlich gefährdet.

Natürlich ist die Stimme des Sechsundsechzigjährigen kahler als einst. Was tut’s! Die sonore Tiefe, das unverwechselbare Timbre, das lyrische Falsett gewinnen sich auch heute das Publikum, weil sie der geistigen Durchdringung dienen. Hartmut Höll war der kongeniale Partner am Flügel.

Hans-Jörg von Jena

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