Zum Liederabend am 9. Mai 1991 in Nürnberg


    

     Nürnberger Zeitung, 11. Mai 1991     

Mit Liebe manches Geheimnis erschlossen

Zwischen "Wehmut" und "Hoffnung": Dietrich Fischer-Dieskau sang Schubert-Lieder

     

Nachdem Dietrich Fischer-Dieskau und sein Partner Hartmut Höll sich am Freitag letzter Woche mit Schumanns Heine-Zyklen präsentiert hatten, lag es nahe, daß die Beteiligten, die Künstler, das enthusiastische Publikum sowie die TV-Leute, deren Anliegen das Festhalten, aber auch Produzieren "großer" Ereignisse ist, daß also alle Beteiligten sich erneut zusammenfinden, um das Ereignis, nunmehr im Namen Schuberts, zu duplizieren.

Waren die Musiker bei Schumanns Zyklen an die vom Komponisten geprägte Disposition des Ablaufs gebunden, so ließen sie sich am Donnerstag abend die Gelegenheit nicht entgehen, aus dem immensen Fundus Schubertschen Liedschaffens sich einen eigenen Zyklus zusammenzustellen.

Keinen "Frühlingsglauben", kein "Heidenröslein" band ein rastloser "Musensohn" zum Liederstrauß. Vielmehr überformte ein nachdenklicher Zug die im übrigen ziemlich chronologisch (von 1816 bis 1828) aneinander gereihten Gesänge.

Dietrich Fischer-Dieskau, in Ton und Wort bekanntlich seit langem höchst engagierter Anwalt Schuberts, wählte hierbei überwiegend Kompositionen aus, die nicht so häufig zu hören sind. "An Schwager Kronos", jenes, so Fischer-Dieskau, "genial holprige Stück", führte mit der expressiven Verve des frühen Lied-Komponisten Schubert zugleich jene hintergründigen, unsterblichen Themen ein, auf die ein "authentischer" Schubert-Abend (und wer bürgt für Authentizität, wenn nicht Fischer-Dieskau?) zuläuft; der Strom der Zeit, das "immer fort", die Bewegung, deren Heftigkeit das Unerbittliche, Unumkehrbare vielleicht kurzfristig vergessen läßt, aber letzten Endes Vergänglichkeit noch schmerzhafter zur Vorstellung bringt.

Das phantastische Interpreten-Gespann, bei dessen Lobpreisung sich die Kollegen aller Nürnberger Blätter bereits angelegentlich des Schumann-Auftritts gegenseitig überboten hatten, so daß sich diesbezüglich nichts mehr anbietet – schlug im ersten Programmteil einen – häufig auffallend schlichten – Ton zwischen "Wehmut" und "Hoffnung" (die Goethe-Vertonung) an, nicht ohne freilich in kühner Unterbrechung die sonderbare Ballade vom "Zwerg", die dem Sänger ja sehr am Herzen liegt, einzulegen: hat er hier doch Gelegenheit zu zeigen, wie aus der Feingliedrigkeit extremer und momentaner Ausdrucksschattierung und Rollengestaltung ein überzeugender Gesamteindruck zu schmieden ist.

Das "süße Ahnen" jenes Reiterlieds mit dem Titel "Auf der Bruck" signalisierte für den zweiten Teil des Abends freundliche Aufhellung, hell/dunkel jetzt im reversen Verhältnis. "Fischers Liebesglück" verzauberte als ausgedehnte Pänultima das Auditorium, brachte die Zeit zum Stehen. Es wurde hier nun spätestens klar, daß beide Musiker, insbesondere gewiß der Sänger, ihrem Schubert aus dem Inneren, als Eigenes, schöpften; daß Habitus und Ton eine "echte Beziehung", wie man heute so sagt, zu ihrem Stoff gefunden haben, denn, so Fischer-Dieskau in seinem Schubert-Buch: "Ohne die Liebe bleiben die Geheimnisse unerschlossen."

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     Erlanger Nachrichten, (EN) 11./12. Mai 1991     

Die Klangrede des Philosophen

Fischer-Dieskaus Nürnberger Schubert-Abend

  

Konsequent wie stets in seinen Programmen sang Dietrich Fischer-Dieskau bei seinem ersten Nürnberger Liederabend nur Robert Schumann, beim zweiten nur Franz Schubert. Sein sensibles Stilempfinden arbeitet die Unterschiede prägnant heraus.

Ein weiterer Kontrast erhöhte die Spannung. Bei Schumann hatte Fischer-Dieskau aussschließlich Heine-Vertonungen (zwei Zyklen) ausgewählt, bei Schubert trug er Einzellieder unterschiedlicher Autoren vor. Bei Heine wird hohe literarische Qualität zum Klingen gebracht, werden Wort und Ton niveaugleich zu neuen Kunstwerken verbunden; bei den meisten Schubertliedern am zweiten Abend muß die Musik wesentlich schwächere Texte zur Synthese formen.

Beim Lesen erscheinen einem die Verse von Pseudodichtern wie Collin, Schulze, Schlechta, Leitner dilettantisch, kitschig, banal. Doch dann geschieht das Wunder: der Komponist und die Interpreten (Sänger und Pianist) veredeln sie nicht nur, sie schälen den realistischen Kern heraus, geben ihnen Spontaneität, verwandeln eine sentimentale Vorlage zum exemplarischen Bekenntnis. Die ideale Partnerschaft mit Hartmut Höll (Klavier) haben wir bereits gewürdigt.

Hier feiert die expressive, ausdrucksbesessene Diktion Fischer-Dieskaus ihre starken Triumphe. Dramatische Ansätze in der Miniatur eines Liedes werden balladesk gesteigert; gefühlige Ergüsse werden in poetische Sphären gehoben; in heiteren Passagen bekommt der Humor hintergründige Züge, ironisches Funkeln. Die menschlichen Emotionen berühren den Hörer noch immer unmittelbar, aber aus dem Mund eines singenden Philosophen.

Die gedanklich fundierte, sinnlich lodernde Klangrede Dietrich Fischer-Dieskaus fängt in zwei Dutzend Liedern ein lyrisches Universum ein. Und tatsächlich fügen sich bei der scheinbar beliebigen Zusammenstellung der Lieder alle Steinchen zum Porträt-Mosaik, und man gewinnt den Eindruck, jedes Stück wird soeben geboren, geschaffen von ein und derselben Person: dem Dichter, Komponisten, Sänger. Solche "Uraufführungen" produziert Fischer-Dieskau seit 44 Jahren. Und selbst einer, der ihm schon ebensolange kritisch zuhört, bemerkt nicht den leisesten Anflug von Routine.

Der Orpheus unseres Jahrhunderts türmte zwei Gipfel im Nürnberger Konzertjahr auf. Der Beifall geriet auch beim zweiten Abend im Opernhaus zu stürmischen Ovationen. Wie aus dem Füllhorn seines Repertoires, das mehrere tausend Lieder umfaßt, reiht er noch eine Perlenkette von Zugaben.

Das vierte dieser Geschenke nach Konzertende weckte eine liebe Erinnerung: das Schubertlied "O wie schön ist deine Welt" war einst ein Favorit des legendären Liedpioniers Heinrich Schlusnus. Der Vergleich mit Fischer-Dieskau macht evident, welchen weiten Weg der Vergeistigung die Kunstlied-Interpretation in den letzten fünfzig Jahren zurückgelegt hat.

Fritz Schleicher

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