Zu den Konzerten am 16. und 17. September 1990 in Berlin


    

     Berliner Morgenpost, 18. September 1990     

Musikalisches Doppel am Kemperplatz

Ashkenazy und Végh dirigierten Wand an Wand bei den Berliner Festwochen

     

Was groß ist, was klein, ist in der Musik nicht immer leicht auseinanderzuhalten. Da musizieren im Rahmen der Festwochen Wand an Wand, in der Philharmonie und im Kammermusiksaal, annährend gleichzeitig zwei Ensembles. Das kleine Chamber Orchestra of Europe unter dem unersetzlichen Sandor Végh spielt Haydn und Mozart; im Haupthaus fahren derweil die Hundertschaften auf, das RSO unter Vladimir Ashkenazy, zwei Chöre und neun Elite-Solisten, Julia Varady und Dietrich Fischer-Dieskau an ihrer Spitze.

Geschlagene zweieinhalb Stunden lang (einschließlich Pause) vertiefen sie sich zur 100. Totenfeier für César Franck in dessen Oratorium "Les Béatitudes" ("Die Seligpreisungen") und bringen es vorbildlich zur Aufführung. Beide Konzerte sind annähernd ausverkauft. In beiden Häusern herrscht berechtigter Jubel.

Größter Aufwand bei César Franck; äußerste Bescheidenheit bei Haydn und Mozart.

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Gott schütze ihn: Sandor Végh ist der Musik unentbehrlich.

Das war auch Vladimir Ashkenazy zumindest den "Béatitudes" von César Franck, dem Oratorien-Koloss, der in acht Seligpreisungen, der Bergpredigt des Neuen Testaments entnommen und von den poetischen Fingerübungen einer rechtschaffenen Madame Colomb (die noch immer keinen Vornamen hat) gläubig umhäkelt, immer erneut musikalisch an die Himmelstür klopft, allerdings ohne Einlaß zu finden. Jede der Seligpreisungen beginnt mit einem Chor oder einem Solo, ergeht sich dann in einem mehr oder minder ausführlichen Mittelteil, um danach mit der Stimme Christi zu schließen.

Zehn volle Jahre hat Franck auf sein Riesenopus vewandt, dem dann zu Lebzeiten des Komponisten nur eine einzige Aufführung zuteil wurde: beim Komponisten daheim mit Klavierbegleitung. Kein Wunder, daß dieser Privataufführung die Zuhörer davonliefen. In Berlin dagegen bleib alles geduldig auf seinem Platz.

Was Wunder: Vinson Cole sang das Tenorsolo der vierten Seligpreisung derart schmelzend, als wäre es eine Arie von Jules Massenet. Das Quintett der "Friedfertigen" klang. hochkarätig besetzt, wie es in Kreisen von Friedferrtigen in Realität leider nur selten der Fall ist, fesselnd durch Sanftmut auf, und selbst Satans grimmig gemeinte Einwürfe verhallten ohne musikalischen Stachel.

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Klaus Geitel

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     Der Tagesspiegel, Berlin, 18. September 1990     

Mißglücktes Hauptwerk

Francks "Seligpreisungen" mit dem RSO und Ashkenazy

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Ganze zehn Jahre, von 1869 bis 1879, hat Franck an diesem Oratorium gearbeitet, das sein Hauptwerk werden sollte. Das Scheitern erklärt sich nicht allein aus dem fehlenden literarischen Geschmack. Franck schien auch nicht zu erkennen, daß ihm die musikalische Logik eines Brahms oder die dramatische Entschiedenheit eines Verdi fehlte. Andererseits ging er seiner Neigung zum Lyrismus nicht so konsequent nach wie etwa Debussy. Dieser sollte in seinem "Martyrium des Heiligen Sebastian" die symmetrische Periodik völlig sprengen, an der Franck noch pedantisch festhielt.

Vladimir Ashkenazy hat sich mit dem Radio-Symphonie-Orchester Berlin bereits früher für unbekannte Werke des flämischen Meisters eingesetzt. Um dem von Debussy beschriebenen "ermüdenden, eigensinnigen Grau" der Chöre zu entgehen, zog er mit entschiedener Kontrastierung in Tempo und Dynamik alle Register dramatischer Steigerungskunst. Diesem Bedürfnis nach mehr szenischem Effekt und Farbe entsprach die Riesenbesetzung mit zwei großen Vokalensembles (der Ernst Senff-Chor als himmlischer Chor, der Philharmonische Chor Berlin als irdischer Chor) und neun Solisten. César Franck rückte damit in die Nähe von Hector Berlioz. Diese stilistische Umakzentuierung ist als Rettungsversuch verständlich, hatte allerdings auch ihre Probleme bei Teilen, denen jede Dramatik fehlt. Bei Vinson Cole und auch Dietrich Fischer-Dieskau (als Christus) führte die erstrebte Intensivierung zu gelegentlich übertriebener Expressivität. Insgesamt überzeugender wirkte die zweite Hälfte des Werks, die im Gegenüber von Satan und Christus endlich einmal Opernhaftes enthält.

Nach Julia Varady, die schon der Nummer 5 durch ausdrucksvolles Legato beeindruckende Intensität abgewann, waren hier Nikita Storojev als Satan und Brigitte Balleys als Mater dolorosa herausragende Vokalsolisten. Alle Beteiligten, nicht zuletzt der mit nie nachlassender Spannung dirigierende Ashkenazy, gaben ihr Bestes bei dieser interessanten Ausgrabung, die viele Schönheiten offenbarte, als Ganzes jedoch einen zwiespältigen Eindruck zurückließ.

Albrecht Dümling

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