Zum Konzert am 11. September 1990 in Berlin

    

     Der Tagesspiegel, Berlin, 13. September 1990     

    

Musikalische Einheit

Chamber Orchestra of Europe mit Végh und Fischer-Dieskau

     

Europa als kulturell übergreifende Einheit, wie sie sich in der Epoche der klassischen Musik manifestiert und in der Metropole Wien spezifische Gestalt annimmt, ist unterschwelliger Leitgedanke der von Sandor Végh geleiteten Konzertreihe des Chamber Orchestra of Europe (COE). Nicht nur durch den gewichtigen Einsatz von Dietrich Fischer-Dieskau in vier Konzertarien von Mozart nahm das Programm des ersten Abends im Kammermusiksaal auf die theatralischen Wurzeln symphonischer Musik Bezug.

[...]

Zwischen diesen beiden Markierungspunkten europäischer Musikgeschichte erhoben sich, in der Einschmelzung mannigfacher europäischer Klangsprachen zum eigenen Idiom wiederum zeitlos individuell anmutend, vier Konzertarien von Wolfgang Amadeus Mozart. Dietrich Fischer-Dieskau gab ihnen, bei falberhaft sitzender und überaus wandlungsfähiger, noch im einzelnen Ton Gefühlsfacetten nuancierender Stimme, die plastische Gestalt. Äußerst berührende Spannung vermittelte "Mentre ti lascio, o figlia", dessen Text Mozart einer Paisiello-Oper entnahm, nicht minder ausdrucksstark sprach sich "Cosi dunque tradisci" in heiklen Sprüngen und stark akzentuierten Stimmungswechseln aus. "Rivolgete a lui lo sguardo", ursprünglich für die Oper "Cosi fan tutte" geschrieben, ließ stimmlichen Heldenglanz sich selbst parodieren, während "Un bacio di mano", ein kleines Liebesbrevier für ungeschickte Liebhaber, die vielleicht feinste, liebevollste Ausgestaltung erfuhr, was der Sänger durch schalkhafte Gestik noch unterstützte.

Isabel Herzfeld

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