Zum Konzert am 3. November 1988 in München

  


  

     Süddeutsche Zeitung, 5./6. November 1988     

Extremfälle der Kammermusik

Dietrich Fischer-Dieskau und das Cherubini-Quartett

     

Ein langer, problemschwerer Abend im Münchner Herkulessaal, anstrengend für alle Beteiligten, auch für die vielen, die ihre Hände lediglich zum Applaus rühren mußten. Das geächtete Wort "Musikgenuß" verbot sich von selbst; man fand sich Extremen ausgesetzt, Erkundungen der äußersten Möglichkeiten des Satzes für vier oder fünf Stimmen. Wie das junge Cherubini-Quartett dieses Exerzitium durchstand, ohne ein Sechzehntel lang die Kontrolle oder gar die Spannung zu verlieren, bleibt sein Geheimnis. Wer noch Zweifel am Weltrang dieses Ensembles gehabt haben sollte, hier gab er sie bereitwillig auf.

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Das mit strenger Konsequenz angelegte Programm steuerte zu auf die Münchner Premiere von Aribert Reimanns Vokalzyklus "Unrevealed" von 1981. Es handelt sich um ein mit heftigen Emotionen und ebensolchen spieltechnischen Schwierigkeiten aufgeladenes Streichquartett in vier Sätzen, dem eine von der Kantilene bis zur rhythmisierten Rezitation geführte Baritonstimme hinzugefügt ist. Wie so oft in Reimanns Zyklen werden schwer durchschaubare Konflikte zum Gegenstand einer übernervösen, expressiven und konzessionslosen Musik gemacht; "Unrevealed" erwägt und ermißt in postseriellen Klängen, was Lord Byron "unenthüllt" wissen wollte, nämlich die Leidenschaft zu seiner Halbschwester Augusta. Stanzen und Briefe Byrons deuten an, was Reimanns Klangphantasie beklemmend umschreibt: Trauer, Verzweiflung, aufbegehrenden Trotz, Aussichtslosigkeit und Tiefe des Gefühls.

Ein Grundmotiv verklammert den Zyklus. Die Vielfalt vokaler Ausdrucksmittel erfaßt Byrons Sprache der Andeutungen wie der Bekenntnisse; aufs sensibelste folgt Reimanns Kunst der Nuance dem wohl schönsten, dichtesten Englisch, das im 19. Jahrhundert geschrieben worden ist. Dietrich Fischer-Dieskau, Reimann nicht erst seit dem "Lear" von 1978 verbunden, denkt Byrons halbe und ganze Geständnisse genauso zu Ende wie die bald ent-, bald verhüllende Sprachmelodie, deren Radius vom furiosen Intervallsprung bis zum Sprechton reicht.

Der Ausdrucksfülle war man gewärtig, die ungeschmälerte Bravour der Stimme überwältigte. Von der Baßlage bis zu den höchsten Baritonklängen ist Fischer-Dieskaus Stimme von faszinierender Präsenz, beweglich, weich im Lyrischen und heldisch in den (ganz unsentimental angegangenen) Ausbrüchen. Es klang nach immerwährender Glanzzeit. Das Cherubini-Quartett, im schönsten Einvernehmen mit Reimanns Standardinterpreten, bewältigte das dritte, um keine Schwierigkeit verlegene Klangmassiv des Abends als sei es eine Selbstverständlichkeit.

Karl Schumann

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