Zum Liederabend am 21. September 1987 in Berlin


 

     Der Tagesspiegel, Berlin, 23. September 1987     

Ohne Konzessionen

Fischer-Dieskau und Hartmut Höll in der Deutschen Oper

    

Nach dem Hanns-Eisler-Abend mit Aribert Reimann und der Uraufführung der Nelly-Sachs-Symphonie von Isang Yun mit dem Philharmonischen Orchester hat sich Dietrich Fischer-Dieskau nun seiner schon traditionellen Liederabend-Reihe in der Deutschen Oper zugewandt, diesem von weiten Publikumskreisen favorisierten Akzent der Berliner Herbstsaison. Was sich in Fischer-Dieskaus Erinnerungsbuch "Nachklang", das kürzlich erschienen ist, wie eine Art von Credo liest, daß er nämlich weder den Grenzen der Stimme noch dem Geschmack des Hörers irgendwelche Konzessionen zubillige, wurde an diesem Abend wiederum Ereignis. Ein Schumann-Abend, an Stelle des ursprünglich angekündigten Beethoven-Abends, der wievielte? Eine künstlerische Entdeckungsreise dennoch, an der Hartmut Höll am Flügel, in pianistischer Bestform mitgestaltend, seinen Anteil hatte.

Ein Sänger von 62 Jahren, der kein stimmliches Risiko scheut, weil er die Gesetze der Musik und seine Interpretationsvorstellung über das Material stellt, ist ein Phänomen für sich. Das Wesentliche dieser unvergleichlichen Kunstübung ist ja doch, wieviel klangliche Makellosigkeit und Schönheit noch immer und immer wieder möglich sind. Und Farben! Nach den Nelly-Sachs-Versen in der Vertonung Yuns, in denen Fischer-Dieskau sich des subjektiven Tons verantwortlich eher enthalten hat, gab er jetzt wieder dem Ich-Ton der romantischen Poesie seinen unverwechselbaren Ausdruck, seine berückenden Pianoeinsätze vor allem, und das heißt, daß für den Zuhörer das gesungene Lied mit der Persönlichkeit des Sängers oft nahezu verschmilzt.

Wenn zur Ganzheit der Liedinterpretation Fischer-Dieskaus auch eine optische Komponente gehört, so hat das nichts mit Schauspielerei zu tun, sondern mit seiner Absicht und Fähigkeit, den Zuschauer hineinzunehmen in die eigene Spannung – hierfür ist das Auswendigsingen vor allem wichtig! – in das Abenteuer eines Liedes, einer Liedgruppe, das vom ersten bis zum letzten Klavierton reicht. Durch sein eigenes Zuhören schafft er es wie kein anderer Sänger, den Nachspielen Robert Schumanns und dem Partner Hartmut Höll die gespannte Aufmerksamkeit des Publikums zu sichern.

Das beziehungsreich gebaute Programm umfaßte in jeweils kleinen Gruppen Lieder auf Dichtungen von Rückert, Lenau, Heine, Andersen und Geibel. Waren unter den Heine-Liedern die Balladen "Belsatzar" und "Die beiden Grenadiere" als Werke der großen Steigerungen herausragend – das erstaunlich durchgehaltene Forte der Marseillaise erschien als sehr ambivalenter Triumphgesang -, so brachte die Lyrik Hans Christian Andersens Töne von beklemmendem Realismus ein. "Der Soldat" zumal, hier in Korrespondenz gesetzt zu den "Grenadieren", läßt schon an die Soldatenlieder Gustav Mahlers denken und handelt von der Pflicht des Soldaten, in einem Erschießungskommando den besten Freund zu töten: "Ich aber, ich traf ihn mitten in das Herz." Dieses letzte Wort, im Ausdruck von den vorausgegangenen getrennt, umfaßte alle Trauer, die sich singen läßt.

So endete das Programm natürlich nicht, sondern mit der Virtuosennummer "Der Contrabandiste", worauf Beifall und Bravos mit Zugaben erwidert wurden, mit Herzlichkeit auf beiden Seiten, wie das Ritual so üblich ist, wobei es schien, als ob das Publikum auch den Wink des Liedes "Sitz’ ich allein, wo kann ich besser sein?" überhaupt nicht akzeptieren und sich von dem Sänger nicht trennen wollte. (Am 24. September folgt ein Brahms-, am 28. September ein Liszt-/Strauss-Programm).

Sybill Mahlke


   

     Zeitung unbekannt, 23. September 1987     

Liederabend mit Dietrich Fischer-Dieskau

Mehr als zwei Seelen sind in Schumanns Brust

     

Nach seiner gesundheitlichen Pechsträhne der letzten Wochen war Dietrich Fischer-Dieskau sowohl beim Philharmonie-Konzert am Donnerstag als auch rechtzeitig zu seinen Liederabenden in der Deutschen Oper wieder ganz bei Stimme. Sein erster Abend im vollbesetzten Opernhaus galt Robert Schumann; nicht den großen Zyklen, sondern einer sorgsamen Auswahl an Liedern von Rückert, Lenau, Heine, Andersen Eichendorff und Geibel aus Schumanns fruchtbaren Jahren.

Mit Liebe zur Charakterstudie spürt Fischer-Dieskau darin den mehr als zwei Seelen nach, die in Schumanns Brust wohnten: dem launigen und feurigen, dem mystischen, spöttischen und verbissenen Schumann. Fischer-Dieskau zeichnet mit wendiger Gestaltungsfreude in Lenaus "Meine Rose" oder Geibels "Melancholie" Stimmungsbilder voller Farbnuancen. Vor allem ist er aber ein großartiger Geschichten-Erzähler, der die Ballade von Besazar ebenso beklemmend und bewegt schildert wie die Liebesbegegnung in Andersens "Märzveilchen" und die nächtlich-skurrile Aktion von Eichendorffs "Schatzgräber".

Hartmut Höll schuf am Flügel wieder den dezenten, stimmigen Nährboden für Fischer-Dieskaus detailverliebte Formgebung und traf auch in den Vor-, Zwischen- und Nachspielen stets den passenden Ton zwischen der funkelnden Fülle der Akkordbrechungen und subtilster Zartheit.

Daß die Berliner Zuhörer-Gemeinde ihren Fischer-Dieskau mindestens zwanzig Minuten lang mit frenetischem Jubel bedenkt, gehört schon zu den liebenswerten Selbstverständlichkeiten dieser Liederabende. Morgen singt er "Die schöne Magelone" von Johannes Brahms, am nächsten Montag folgen Lieder von Liszt und Strauss.

-mig

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