Zum Liederabend am 9. August 1987 in Ludwigsburg


     Stuttgarter Nachrichten, 11. August 1987     

Fischer-Dieskau und Christoph Eschenbach mit Schubert-Liedern in Ludwigsburg

Gleichklang durch Raum und Zeit

     

Es heißt, daß die Musik die Macht hat, Menschen und überhaupt alle Kreatur zu verändern. Orpheus hat durch seinen Gesang das Steinherz des Totengottes erweicht, und Mozart verwandelt in seiner "Zauberflöte" mithilfe von Papagenos Glockenspiel nicht nur Bestien in Schmusetiere, sondern auch die rachgierige Schar um den Mohren Monostatos in eine lammfromme Tanzgesellschaft.

Wenn Dietrich Fischer-Dieskau einen Liederabend, insbesondere mit Schubert-Liedern, gibt, läßt sich ein ähnlicher Effekt beobachten. Da werden von einem größtenteils auf die bekannten großen Liedzyklen und Einzelwerke eingeschworenen Publikum plötzlich auch jene unbekannteren und beiseitegelegten Lieder akzeptiert, deren oft verquaste, für unser heutiges Empfinden allzu romantisch schwülstige Sprache allenfalls ein mitleidiges Lächeln abnötigt. Nimmt Fischer-Dieskau sich dieser Lieder und Texte an, so erhalten sie nicht nur durch seine außergewöhnliche Gesangskultur und Gestaltungskraft den Stempel des Außergewöhnlichen. Indem er sie ernst nimmt und auch durch die artifizielle Schlichtheit seines Vortrags vermittelt er eine Ahnung von den unverstellten Gefühlen und Empfindungen, die den Dichter und wohl auch den Komponisten zu und bei ihrer Arbeit bewegt haben. Vergangenheit wird so unversehens zu Gegenwart, zu Emotion und Gleichklang der Seelen durch Zeit und Raum.

Im Rahmen der Ludwigsburger Schloßfestspiele sang Dietrich Fischer-Dieskau unter dem zusammenfassenden Titel "Die letzten Jahre" 18 nicht zu einem Zyklus gehörende Lieder Schuberts - und fünf weitere als Zugabe für den nicht endenwollenden Beifall und die Bravorufe. Er verwandelte die für derartige Veranstaltungen (nicht nur akustisch) wahrhaftig nicht geeignete Ludwigsburger Friedenskirche in einen Liedertempel. Und daß der Sänger dabei von Christoph Eschenbach am Flügel begleitet wurde, machte diesen Abend erst recht zum Erlebnis, zu einer Ludwigsburger Sternstunde.

Schwer zu sagen, was an der außergewöhnlichen Kunst Fischer-Dieskaus mehr fasziniert: sein Einfühlungsvermögen, sein höchst kultivierter und konzentrierter Vortrag, seine Phrasierungskunst, Aussprache und Textverständlichkeit, seine Legatobögen oder dieser Gestaltungswille. der die Bildkraft der Töne durch Hell-Dunkel-Kontraste ebenso nutzt wie die Klangsinnlichkeit der Worte und selbst einzelner Silben. Bald gibt sich diese Stimme auftrumpfend-leidenschaftlich wie in "Helioplois" II, dann wieder schwebt sie wie wesenlos und fast unhörbar im Raum wie etwa in "Des Sängers Habe" oder in der "Taubenpost", in der die Hoffnung den Namen Sehnsucht trägt.

Die Zeit und die Jahre haben dieser Stimme nichts anhaben können. Mit einer technischen Perfektion sondersgleichen kontrolliert Fischer-Dieskau seine Stimme selbst dort, wo er an seine Grenzen stößt: in der Höhe etwa oder wenn beim forcierten Vortrag der Schmelz doch etwas spröde und flach wird. Kein unbeherrschter Ton entschlüpft der Kehle dieses Ausnahmesängers, der als Liedinterpret zusammen mit Elisabeth Schwarzkopf, Peter Schreier und Peter Pears zu den ganz Großen dieses Jahrhunderts zählen wird.

Christoph Eschenbach gab sich am Flügel nicht mit der Rolle des Begleiters zufrieden. Eschenbach setzte nicht nur in den Vor- und Nachspielen Akzente, sondern entwickelte sich im Laufe des Abends immer mehr zum nicht minder feinfühligen und eigenständigen Partner des Sängers, daß es nicht minder eine Lust war, seinem differenzierten und ausdrucksvollen Spiel zu lauschen.

Dieter Kölmel

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     Stuttgarter Zeitung, 11. August 1987     

Seele und Körper

Dietrich Fischer-Dieskau in Ludwigsburg

    

Auch für Dietrich Fischer-Dieskau ist die Zeit nicht stillgestanden: Für den Zweiundsechzigjährigen spielt die Technik unüberhörbar eine wichtige Rolle. So, wie wir diesen fraglos bedeutendsten Liedersänger und -Gestalter Nachkriegsdeutschlands in der Ludwigsburger Friedenskirche erlebten, sahen wir uns einem Künstler gegenüber, der allmählich in einen Widerstreit mit seiner Physis geraten ist. Sein Auftritt, mit Christoph Eschenbach am Klavier: schnell, entschieden, konzentriert. Doch die lauten Töne, mit denen er das erste Schubert-Lied "Aus Heliopolis II" in diesem Dieskau-typischen, nur Schuberts späten Liedern gewidmeten Abend stürmen und drängen lassen wollte, wirkten kraftlos, als seien sie nachlässig herausgeschleudert worden. "Schubert - die letzten Jahre" lautete die Überschrift des Abends. Kündigte sie insgeheim gleichzeitig "Fischer-Dieskau - die letzten Jahre" an?

Den baritonalen Glanz von Deutschlands Sängerfürst im Ohr, schmerzte es jedenfalls besonders, den sonst so disziplinierten Schmelz von Fischer-Dieskaus Stimme am Wechsel von Vokalfarben bröckeln zu hören (besonders der Vokal "e" fiel fast in jedem Lied vor der Pause aus dem Klang), Schwankungen .und Unsicherheiten in der Intonation zu vernehmen ("Liebe" in "Der Abendstern", "Heilige" in "Nacht und Träume") und den Eindruck eines Nachlassens von Kraft und Genauigkeit in Fischer-Dieskaus Stimmführung zu verfolgen.

Nach der Pause jedoch brachte er das Wunder fertig, scheinbar die Gesangstechnik zu vergessen und sich ganz auf seine ureigene Domäne zu besinnen: die Gestaltung des Textes. Hier bestätigte sich, daß Fischer-Dieskau noch immer ein großer Stilist ist. So ist man versucht, ein "Deklamationswunder" zu nennen, wie Fischer-Dieskau entrückte "Alinde"-Rufe von sich gab. in "Der Kreuzzug" innerhalb von drei Zeilen Meisterstücke an Wortcharakterisierung vollbrachte ("Fromm", "Ernst", "Von Seite zart") oder in "Des Fischers Liebesglück" tiefste Zweifel anklingen ließ, stillbar nur durch die Entrückung durch den Tod ("schon drüben zu sein").

Es gab schon einmal eine Zeit, da man einen Dualismus in Fischer-Dieskaus Interpretation bemerkte und ihm Überzogenheit der Deklamation vorwarf. Nun, da die Stimme nicht mehr ganz die ihres Herrn ist, zahlt sich die konsequent betriebene Bevorzugung von Text, Inhalt und Ausdruck aus. Die Interpretation scheint vom eigentlichen Gesang losgelöst, die Musik wird völlig im Ausdruck der Persönlichkeit Fischer-Dieskaus aufgehoben. Als Partner am Klavier analysierte Christoph Eschenbach seinen Part messerscharf, akzentuierte er seinen Part in völligem Einvernehmen mit dem Sänger. Das gab diesem Abend schließlich ein so knappes, ökonomisches Format, in dem alles auf die prickelnde Hochspannung gemeinsamen Musizierens gerichtet war. Tosender Applaus und vier Zugaben.

Lászlo Molnár

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     Pforzheimer Zeitung, 14. August 1987     

Ludwigsburger Festspiele

Sternstunde des Liedes

Dietrich Fischer-Dieskau enthusiastisch gefeiert

   

Überschüttet von Beifallsstürmen, die auch nach der fünften Zugabe nicht enden wollten, feierte Dietrich Fischer-Dieskau mit einem Franz-Schubert-Liederabend bei den Ludwigsburger Festspielen Triumphe: Nicht solistische Reißer (wie "Erlkönig", "An den Mond", "Du holde Kunst" oder "Die Forelle"), weder die großen Zyklen ("Winterreise", "Die schöne Müllerin") noch die Balladen rissen die Zuhörer in der übervollen Friedenskirche zu Ovationen hin, sondern Stücke, die meist am Rande des Schubertschen Liederschaffens stehen, durchkomponierte Strophenlieder und freie Formen, unter dem Titel "Die letzten Jahre" zusammengefaßt.

Der "bedeutendste Sänger des Jahrhunderts", als den Leonard Bernstein den Berliner Bariton einmal bezeichnet hat, erfüllte höchste Erwartungen, mit denen nicht nur seine zahllosen Bewunderer zu dem Konzert gekommen waren. Vor allem die Vielfalt dieser wunderschön timbrierten Stimme, facettenreiche Register und Farben begeisterten.

Ob es darum ging, fein ziselierte Melodie-Reliefs lyrisch zu durchdringen (Abendstern, D 806), mit großem Volumen dynamische Akzente zu setzen (Des Sängers Habe, D 832) oder rasche, fast tänzerisch-leichtfüßige Geläufigkeit zu demonstrieren (Im Frühling, D 882) – der Meister des Kunstliedes bewältigte alle Darbietungsformen des Vortrags geradezu mühelos.

Schier endlose, klangschön-forcierte Fermaten (Des Fischers Liebesglück, D 933), herrlich gebundene Koloraturen und Legati (Der Winterabend, D 938) sowie strahlende Spitzentöne (Die Sterne, D 939) zeichneten Fischer-Dieskaus einzigartige Gesangskunst aus. Untheatralisch, aber erfrischend in seinen gestischen Ausdrucksmitteln, mit exakter Artikulation und einem enormen lautmalerischen Gespür gestaltete der Solist Melancholie und Fröhlichkeit, stimmungsvolle Passagen und dramatische Höhepunkte.

Die ungemein wirkungsvolle gesangliche Interpretation der Texte und stimmlich-technische Perfektion wurde ergänzt von einer einfühlsamen, brillanten Begleitung am Flügel. Christoph Eschenbach war nicht nur ein zurückhaltend-dienender Partner, sondern eigenständiger Gestalter von hohem Rang. Beide Interpreten leisteten so in Ludwigsburg einen enthusiastisch aufgenommenen Beitrag zur Kultur des künstlerischen Liedvortrages, bereiteten den Festspielbesuchern eine Sternstunde des romantischen Liedes

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     Esslinger Zeitung, 11. August 1987     

Der Rang des Historischen

Ein Philosoph singt Schubert

Beglückender Liederabend mit Dietrich Fischer-Dieskau

    

Dietrich Fischer-Dieskau hat seinem Schubertabend im Rahmen der Ludwigsburger Schloßfestspiele den Titel "Die letzten Jahre" gegeben. Das suggeriert Geheimnis. Das könnte andeuten, daß hier ein Musiker aus dem Dickicht der Ausweglosigkeiten zu entkommen versuchte. Waren die Lieder der letzten Jahre etwa Fluchtwege oder gar bizarre Notausgänge, durch die Schubert sich zwängen wollte?

Nach Fischer-Dieskaus Auftritt in der ausverkauften Friedenskirche wird man diese Frage nicht summarisch bejahen können. Zwar endet das Programm mit der "Taubenpost" nach Seidl. Ein Vogel wird zum Symbol abgerissener Kontakte in der Einsamkeit. Das Lied, vom Verleger Haslinger an den Zyklus "Schwanengesang" angehängt, erreicht aber bei weitem nicht die Todesnähe des vorangehenden "Doppelgängers" oder die Düsternis mancher Gesänge aus der "Winterreise".

Fischer-Dieskau bastelt mit seiner Liederauswahl kein Endzeitdrama zusammen, obwohl er vollkommen chronologisch nach dem Werkverzeichnis des Otto Erich Deutsch vorangeht, bei der Nummer 754 beginnt und bei 965 endet. Er hält Schubert nicht im Käfig des Selbstmitleids gefangen, sondern weist auf den Freiheitsraum des Komponisten hin. Hier aber gilt Schuberts Wort: "Bei einem guten Gedicht, da fällt einem gleich was Gescheites ein, die Melodien strömen herzu, daß es eine wahre Freude ist; bei einem schlechten Gedicht geht nichts vom Fleck, man martert sich dabei, und es kommt nichts als trockenes Zeug heraus." So mag leise Ironie bei Fischer-Dieskau mitschwingen, wenn er in seine Auswahl zwei Vertonungen des Leipziger Musikredakteurs Rochlitz aufnimmt. ("An die Laute", Alinde"), der zu Schuberts Lebzeiten gefordert hatte, man müsse Schubert milde über seine Begabungsgrenzen aufklären.

Aber zweifellos: die Lieder der letzten Jahre fordern einen philosophischen Sänger, keinen jugendlichen Helden. Fischer-Dieskau ist genau dieser Sänger geworden. Lebenslanges Bemühen, die romantische Utopie der Liederwelt Schuberts in unserer Zeit zu realisieren, haben ihn zum autorisierten Sprecher gemacht. Seinem Liederabend kommt deswegen sofort der Rang des Historischen zu. Schon im Herbst wird er auf Schallplatte käuflich sein.

Das Programm hat eine seidenleichte Mitte mit den Liedern "Im Frühling" und "An Silvia". Sie sind auch jedes Begleiters Wonne. Christoph Eschenbachs Flügel sang mit dem Sänger. Einen ganzen Abend über bestanden er und Fischer-Dieskau voreinander und nebeneinander. Beide können mit der sanften Gewalt Schuberts umgehen wie kaum ein anderes Paar. Weder übertreiben sie die stürmische Gangart des Balladentons, noch versinken sie bei den sinnenden Texten Leitners im zweiten Programmteil in Wehmut. Sie treffen den Herzton.

Überhaupt ist Fischer-Dieskaus Liedgestaltung nach wie vor von höchster Eindringlichkeit. Man braucht niemand zu erklären, daß die Stimmbänder eines Sängers, der den Sechziger hinter sich hat, nicht mehr mühelos den traumschönen, sinnlichen Ton von ehedem hergeben. Aber Fischer-Dieskau muß eben keinen Preis für frühen Raubbau zahlen. Bis zum heutigen Tage kann er Tongebung, Vokalfärbung und Textverständlichkeit zu Szenen von kontrollierter Schönheit zusammenfügen: "Nacht und Träume", mehr gedacht als gesungen, "Des Fischers Liebesglück", mehr drüben als auf der Erde.

Was soll man noch zugeben in einem Raum, dessen äußere und innere akustische Probleme einen Liederabend wie diesen immer wieder existentiell gefährden? Fischer-Dieskau läßt die Noten zu Schuberts Heine-Vertonung "Du schönes Fischermädchen" auflegen, in der noch einmal der Wellenschlag des ganzen Abends anklingt: "Mein Herz gleicht ganz dem Meere, hat Sturm und Ebb’ und Flut." Und dann spendet das Publikum zu Recht frenetischen Beifall für die beiden Interpreten, die sich Zugabe um Zugabe abringen lassen; fast eine halbe Stunde lang geben sie so noch zu, wobei zu keiner Phase die Innigkeit des Vortrages leidet, im Gegenteil noch gesteigert wird.

Erwin Schwarz

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